Das Gold der Lagune: Historischer Roman (German Edition)
und die Umgebung verschwamm vor seinen Augen. Er griff sich an die Stirn. Eine Vision kündigte sich an, deutlich spürte er die ersten Anzeichen. Wie auf einem schwankenden Boot, hilflos dem tosenden Meer ausgesetzt, fühlte er sich plötzlich. Piet schloss die Lider. Mit beiden Händen umklammerte er die Tischplatte, wartete auf die Bilder.
Piet öffnete die Augen und atmete auf, als der Schwindel nachließ und er wieder festen Boden unter sich spürte. Er sah hinaus und erstarrte. Doch das Bild, das sich ihm bot, blieb unverändert. Rübenkraut und Selleriestängel hingen schlaff herunter, die Fenchelpflanzen lagen flach auf dem ausgetrocknet wirkenden Boden. Dichte Wolken verbargen die Sonne, und still war es. Viel zu still. Das Apfelbäumchen trug keine Blätter mehr, die eben noch leuchtenden Blüten lagen auf dem Boden, dazwischen der Vogel, nunmehr leblos. Schauder erfasste ihn, und er keuchte auf.
Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. Das war doch nicht möglich! Aus dem eben noch blühenden, sonnenbeschienenen Gärtchen war ein Ort geworden, an dem der Tod Einzug gehalten hatte. Selbst der Wind hatte aufgehört zu wehen, und auch Piet hielt den Atem an. Die Zeit schien stillzustehen. Wie eine Ewigkeit kam es ihm vor, bis ein Geräusch die Lautlosigkeit durchschnitt. Zunächst kaum vernehmbar, doch dann immer deutlicher, war das Knarren von Rädern auf hartem Boden zu hören, das mit jedem seiner Herzschläge näher rückte. Ein Pferd schnaubte. Dann wechselte das Bild. Er befand sich plötzlich in einem Wald, durch dessen mächtige Baumwipfel gedämpftes Sonnenlicht fiel. Da war eine Kutsche. Rotblondes Haar, nur mühsam gebändigt, lugte unter einem Kopftuch hervor. Ein fein gezeichnetes Gesicht mit erwartungsvoll leuchtenden Augen und geröteten Wangen. Cristin! Der Kutscher hielt genau auf die Burg zu, die unweit von ihnen von einem Hügel aufragte. Es war der Wawel! Der Himmel verfärbte sich, wurde nachtschwarz. Von dem Hügel her erklang ein Seufzen, wurde lauter und gellte ihm wie Hammerschläge in den Ohren.
Piet fuhr zusammen. Stocksteif saß er auf seinem Stuhl. Cristin! Sie ist unterwegs? Sie fährt zur Burg. Wieso? Was ist geschehen?
Kälte erreichte sein Herz. Diese Finsternis rund um die Wawelburg, die kummervollen Töne und dazwischen seine Schwester. Das Gefühl eines nahenden Unheils lag in der Luft – und in der eigentümlichen Vision, die ihn heimgesucht hatte. Cristin war auf dem Weg hierher, sie konnte nicht mehr weit sein. Wärme erfüllte ihn. Aber zu seiner Freude gesellte sich jenes lähmende Gefühl, das ihn beim Anblick der Burg überfallen hatte. Denk nach, sprach er zu sich selbst, doch er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Sein Mund wurde trocken. Er musste etwas trinken, griff nach dem Becher, aber seine Hände zitterten zu stark, um ihn halten zu können. Erst nach und nach gelang es ihm, die Eindrücke um sich herum wieder wahrzunehmen.
Jemand rüttelte ihn an der Schulter. »Ist dir nicht wohl, Piet?«
Er drehte sich langsam herum, begegnete Mariankas Blick. »Ich weiß nicht. Ich habe … etwas gesehen«, krächzte er und deutete auf das große Fenster ihm gegenüber.
»Was soll da sein?«
»Verdammt!«, fuhr er sie an. »Alles ist … war tot, der Apfelbaum, Matkas Gemüsepflanzen.«
Seine Schwiegermutter sah von ihrem Teller auf.
»Und dann …« Piet erhob sich ruckartig.
Auch Mariankas Miene zeigte Verblüffung. »Was ist denn nur mit dir, Liebster? Hast du Fieber? Sprich mit mir!«
Piets Lächeln geriet ein wenig schief. »Mir geht es … mir geht es gut, danke. Aber«, sein Blick wanderte wieder hinaus, »meine Schwester ist auf dem Weg hierher. Sie kommt in einer Kutsche.«
Mariankas strahlend blaue Augen maßen ihn eindringlich.
»Du hattest eine Vision, nicht wahr? Willst du mir nicht erzählen, was …«
»Nein!«, unterbrach er sie barsch. »Lass es gut sein. Meine Schwester kommt. Gewiss gibt es genug für dich zu tun.«
Sie zog einen Schmollmund, fuhr brüsk auf dem Absatz herum und ging hinaus. Ihre beiden jüngeren Geschwister, die das Geschehen stumm verfolgt hatten, trotteten ihr wie Schatten hinterher.
In der folgenden Nacht lag Piet lange wach, starrte an die Zimmerdecke und wartete darauf, dass die Anspannung seines Körpers von ihm wich. Es drängte ihn, aufzustehen und umherzuwandeln, aber er wusste, Marianka besaß einen leichten Schlaf. Also verhielt er sich still.
Ohnehin war es ihm schwergefallen, seine zunehmende
Weitere Kostenlose Bücher