Das Gold der Lagune: Historischer Roman (German Edition)
ihn die Sache erledigt, und Marianka hatte es für klüger gehalten, das Thema zunächst fallen zu lassen.
Als sie jedoch an diesem Tag auf dem Marktplatz einer kleinen Stadt namens Lódzia auf eine Gauklertruppe trafen, zu der auch eine Seiltänzerin gehörte, ließ sich Marianka in einem unbeobachteten Moment von ihr zeigen, wie man auf der Kante eines Karrens balanciert. Piet würde es nicht gutheißen, das wusste sie, doch er war in ein angeregtes Gespräch mit den Spielleuten vertieft und achtete nicht auf sie. Als sie ihm etwas später ihr erstes kleines Kunststück zeigte, wurden seine Augen weit vor Staunen. Bald schon konnte sie auf einem zwischen zwei Bäumen gespannten Seil laufen und dabei in die Höhe springen, ohne auch nur einmal herabzustürzen. Bei seinem spontanen Ausruf »Du bist ja besser als Irmela!«, und der kleinen Weise, die er anstimmte, sprang sie mit einem Satz von dem kaum mehr als fingerdicken Seil auf den festgestampften Boden.
»Soso, ein Loblied auf die schöne Irmela also?« Mit funkelnden Augen sah sie ihn an und stach ihm mit dem Zeigefinger in die Brust. »Piet Kerklich! Muss ich mir etwa Sorgen machen, weil ein anderes Weib dich betört hat?«
Er lachte und zog sie an sich. »Es gibt keinen Grund, eifersüchtig zu sein, mein Liebes!«
Obwohl Marianka längst die Geschichte kannte, wie er seine Zwillingsschwester wiedergefunden hatte und danach noch einige Wochen mit einer Gauklergruppe unterwegs gewesen war, erzählte er ihr nun von den Männern und Frauen, die damals zu den Spielleuten gehörten. Unter ihnen war auch eine zierliche junge Frau namens Irmela gewesen, die gemeinsam mit der einäugigen Duretta auf einem Seil getanzt und dabei auch noch mit drei kleinen Bällen jongliert hatte.
Dies wollte Marianka nun ebenfalls versuchen. Am Rande des ausgedehnten Platzes spannte Piet das Hanfseil zwischen zwei Bäumen stramm. Wenn er mit seiner Vorstellung fertig war, sollte Marianka hinaufklettern. Dann würde er ihr nacheinander drei Eier zuwerfen, mit denen sie auf dem Seil stehend jonglieren wollte.
Immer mehr Marktbesucher hatten sich inzwischen eingefunden und staunend Piets kleine Taschenspielertricks verfolgt. Ein altes Muttchen, unter deren Haube Piet die Eier hervorgeholt hatte, entfernte sich schimpfend. Der Narr Victorius verbeugte sich tief vor seinem Publikum.
»Und jetzt, hochverehrtes Publikum hier im wunderschönen Lódzia, habe ich die Ehre, Euch eine besondere Attraktion ankündigen zu dürfen!« Mit einer ausladenden Handbewegung trat er zur Seite und gab den Blick auf Marianka frei, die sogleich einen der beiden Bäume erklomm und, in halber Höhe angekommen, einen Fuß auf das Seil stellte. Aus vier Klaftern Höhe lächelte sie den Zuschauern zu, die mit offenen Mündern zu ihr emporstarrten.
»Bitte einen herzlichen Begrüßungsapplaus für die schöne Marianka!«, bat Piet mit seinem für ihn so typischen schelmischen Grinsen. » Für Euch zeigt sie heute zum ersten Mal ihre Künste auf dem Seil!«
Er zwinkerte seiner Frau zu. Mit anmutigen Bewegungen machte sie ein paar Schritte vorwärts, dann wieder zurück und hüpfte auf dem federnden Seil in die Höhe – alles begleitet von der stetig zunehmenden Zuschauermenge. Schon waren es wohl drei Dutzend Leute, die Mariankas Darbietung beobachteten.
» Wie ein Vöglein auf dem Dachfirst«, sagte er und blickte in die Runde. »Doch das ist noch längst nicht alles!«
Er grinste, griff nach dem ersten der drei Eier und warf es Marianka zu, die es geschickt auffing. Ein zweites folgte. Nun wollte Piet ihr das dritte Ei zuwerfen, da überfiel ihn unvermittelt Schwindel. Die Umgebung verschwamm vor seinen Augen. Kraftlos öffnete sich seine Rechte, und wie durch einen Nebel hörte er das Ei auf dem Boden zerbrechen.
Auf einmal war ein Rauschen in seinen Ohren, wie ein stürmischer Wind, der heulte und pfiff, bis er zu einem Orkan anzuschwellen schien. Gequält hielt sich Piet die Ohren zu. Um ihn war völlige Finsternis, als würde ihn tiefschwarze, undurchdringliche Nacht umgeben. Sein Herz schlug schneller. Aus weiter Ferne vernahm er Laute, Marianka rief ihm etwas zu, doch er konnte sie weder verstehen noch fühlte er sich in der Lage, ihr zu antworten. Er war den Empfindungen wehrlos ausgeliefert.
Momente später lichtete sich auf einmal die Nacht, und das Rauschen verstummte, als wäre es nie da gewesen. Schemen wurden erkennbar. Die Umrisse von Gestalten waren es, drei an der Zahl, die sich seiner
Weitere Kostenlose Bücher