Das goldene Meer
ein Glas Mai-Tai, den berühmtesten Cocktail im ganzen pazifischen Raum.
Dr. Anneliese Burgbach. Dreißig. Anästhesistin. Mittelgroß, braune, halblange, modisch geschnittene Haare, blaßroter Lippenstift, angedeutete Lidschatten, wohlgeformte Beine mit dünnen Fesseln und kleinen Füßen, ein eher sportlicher als sinnlicher Körper, neigt beim Zuhören den Kopf etwas zur rechten Seite und bekommt grünbraun schimmernde Augen, wenn sie selbst mit Leidenschaft und einem kleinen Sington in der Stimme diskutiert. Eine Frau, die man länger als zwei Sekunden ansieht. Ihre Berufung an die Universitätsklinik für Gynäkologie und Intensivmedizin war für den Jahresanfang bereits ausgesprochen, als sie in einer Illustrierten Fotos vom Elend der Boatpeople sah. Sie rief Hörlein an, sprach mit ihm eine Stunde lang am Telefon, fuhr nach Köln, ließ sich alles zeigen, was das Komitee an Schicksalen gesammelt hatte, und sagte dann ganz schlicht: »Wenn Sie mich brauchen können … ich stelle mich zur Verfügung.«
»Sie werden den dritten Teil von dem verdienen, was Sie in der Uniklinik bekämen«, hatte Hörlein sie gewarnt. Und sie hatte geantwortet: »Das Geldverdienen kann ich hinausschieben. Ich bin ja noch jung. Ich habe Zeit, aber diese Menschen im Meer haben keine Zeit.« Jetzt saß sie neben Dr. Herbergh, trank ebenfalls einen Mai-Tai und bestaunte den Luxus und das Gewimmel von Menschen aller Rassen in der Hotelhalle.
Dr. Wilhelm Starke. Fünfunddreißig. Groß, schlank, schwarzhaarig, eleganter hellgrauer Seidenanzug, in drei Tagen von einem malaiischen Schneider auf Maß gearbeitet, handgenähte Schuhe aus weichem Leder, Seidenhemd, offen getragen, Goldkettchen mit einem Medaillon um den kräftigen Hals. Schlanke, lange Finger ohne Ring, aber um das rechte Handgelenk ebenfalls ein Goldkettchen, links eine goldene Uhr der Luxusmarke, ein Mann, der Frauenblicke anzog und dessen Blick die Frauen auszog, ein Typ, den andere, weniger attraktive Männer verabscheuen, einer, der Neid hervorruft. Internist, mit einem Hang zur Naturmedizin, der ihn in einen Dauerkonflikt mit seinem Vater brachte, der eine Riesenpraxis in Hamburg leitete und die er einmal übernehmen sollte. Ein gemachtes Goldbett … wer kannte in Hamburg Prof. Dr. Ludwig Starke nicht? Bis zu dem Tag, an dem er vom ›Komitee Rettet die Verfolgten‹ hörte, arbeitete Wilhelm Starke als Oberarzt der Inneren Abteilung im Klinikum Eppendorf, und sein Chef stöhnte einmal im vertrauten Kreis: »Wann übernimmt er endlich die Praxis des Kollegen Starke? Es gibt bald kein weibliches Wesen mehr in unserem Haus, das nicht schon in seinem Bett gelegen hat.«
Als Arzt war er das, was man ein As nennt, beliebt bei allen Patienten … bei den weiblichen, weil er in ihr Herz sprach, bei den männlichen, weil er immer einen knalligen Witz parat hatte. Seine Visite endete immer mit einem brüllenden Lachen der Männer. Selbst die Todkranken lächelten noch.
»Jetzt bist du vollends verrückt geworden!« bellte sein Vater ihn an, als er bekanntgab, daß ihn das Südchinesische Meer lockte. »Wo willst du hin? Auf ein Rettungsschiff? Nach Vietnam? Flüchtlinge auffischen? Sieh dich im Spiegel an und tipp dir an die Stirn! Gibt es hier keine Kranken, keine Aufgaben für dich?«
»Nicht solche, Vater. Diese Menschen brauchen Hilfe.«
»Eine Pankreatitis nicht?!« Es war typisch für Prof. Starke, keinen Namen zu nennen, sondern nur eine Krankheit. Namen gehörten auf die Karteikarte – nur die Krankheiten waren für ihn interessant.
»Es ist also dein letztes Wort, Wilhelm?« fragte der Vater hart, als sein Sohn den Kopf schüttelte.
»Ja.«
»Wann soll der Blödsinn losgehen?«
»In sechs Wochen. Ab Singapur.«
»Du kannst es dir leisten, Singapur zu sehen, ohne gleich auf ein Rettungsschiff zu steigen. Ein umstrittenes Schiff, das weißt du wohl? Die Bundesregierung sieht mit Mißfallen auf diese angeblichen Rettungen. Man spricht von einer Sogwirkung. Nur weil das Schiff da draußen herumfährt, verlassen die Menschen das Land und machen sich zu Flüchtlingen. Sie werden mit falschen Hoffnungen herausgelockt. Man bringt sie in einen völlig fremden Kulturkreis, in dem sie mit ihrer eigenen Mentalität nie heimisch werden.«
»So kann man es auch sehen, Vater«, sagte Wilhelm Starke sarkastisch. »Wie in deiner Praxis. Da hat jemand Tumorschmerzen und ist inoperabel, und du sagst freundlich zu ihm: ›Mein Lieber, das sind Nervenschmerzen. Das geht
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