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Das goldene Meer

Das goldene Meer

Titel: Das goldene Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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gegenseitig auffressen? Die Schiffe werden weiterhin an uns vorbeifahren.«
    »Einem Toten ist es gleich, ob wir ihn ins Meer werfen oder zwischen uns aufteilen. Im Meer fressen ihn die Haie. Uns kann er retten, es ist Verschwendung, die Toten den Haien zu überlassen. Später, irgendwo, wo man uns hinbringt, werden wir ihnen einen Altar bauen und sie als Heilige verehren.«
    »Hast du das den anderen schon gesagt?« Cuongs Stimme war vor Grauen völlig ohne Klang.
    »Nein. Ich wollte es zuerst mit dir besprechen.«
    »Ich kann es nicht, Lehrer. Ich kann es nicht.« Cuong würgte. Der Gedanke, in ein Stück rohes Menschenfleisch zu beißen, drehte ihm den Magen um. »Dort kommt Kim. Könntest du Kim aufessen, Xuong?«
    Xuong blickte auf Kim, die gerade aus dem Verschlag gekrochen war. Sie schwankte vor Schwäche. Der leichte Seegang schleuderte sie hin und her, sie hielt sich an der Bordwand fest, krallte die Finger um die Kante und atmete mit weit aufgerissenem Mund. Ihre Haut war gelblich-braun geworden, wie gegerbt, und an den Oberarmen eingerissen und mit einer dünnen Salzkruste überzogen. Ihre Schönheit war von Sonne, Wind und Meer aufgesaugt, von der Natur gefoltert.
    »Komm her, Kim«, rief Xuong. »Komm her …«
    Sie nickte, tastete sich an der Bordwand entlang und lehnte erschöpft neben Xuong am Motorgehäuse.
    »Morgen werden drei Kinder und zwei Frauen tot sein …«, stammelte sie. Ihre aufgesprungenen Lippen waren kaum noch in der Lage, verständliche Worte zu formen. Der schöne Singsang der vietnamesischen Sprache war zu einem Röcheln geworden.
    »Was würdest du tun, um zu überleben, Kim?« fragte Xuong und achtete nicht auf Cuongs Würgen.
    »Alles, Lehrer.«
    »Hast du noch Hoffnung?«
    »Nein. Keiner hat mehr Hoffnung.«
    »Aber wenn du weiterleben könntest …«
    »Wie kann ich weiterleben?«
    »Die Toten werden uns Leben geben.«
    »Die Toten, Lehrer?«
    »Ihr Blut, ihr Fleisch … verstehst du das, Kim?«
    »Ja.« Sie starrte ihn aus hohlen, uralten Augen an. Glanzlose Kugeln. Blindes Glas.
    »Könntest du das?«
    »Die Toten werden uns deswegen nicht verfluchen, Lehrer.«
    »Ich soll Thi auffressen?« schrie Cuong wieder. »Und mein ungeborenes Kind …«
    »Du sollst Thi zu essen geben«, sagte Kim krächzend und würgte an jedem Wort. »Solange sie ißt, lebt sie.«
    »Du bist ein kluges Mädchen, Kim.« Xuong legte seine Hand auf Kims aufgesprungenen, salzverkrusteten Arm. »Gib uns sofort Bescheid, wenn jemand gestorben ist. Sofort, ehe das Blut gerinnt. Wir müssen es mit Wasser verrühren.«
    »Es wird Vu Hoang Yen sein.« Kim legte ihren Kopf auf Cuongs Schulter und schluchzte. Doch Tränen kamen nicht – wie soll ein ausgedörrter Körper Tränen haben? »Wer … wer kann sie aufteilen? Kannst du das, Lehrer?«
    »Ich werde es müssen.«
    »Du bist ein großer Mann.«
    »Nein, Kim. Ich bin der Erbärmlichste von allen. Aber ich kämpfe gegen den Tod, solange ich einen Funken Leben in mir habe.«
    Am Mittag wurden wieder löffelweise Wasser und Nudeln verteilt. Diesmal nur zwei Löffel Wasser für jeden und eine Handvoll Nudeln. Kims kleine Hand war das Maß – Xuongs Hand war zu groß. Nach diesem Essen lagen sie alle wieder apathisch herum, nur Vu Xuan Le angelte weiter, knetete seinen Schweiß in den Köder und hoffte auf einen großen, saftigen Fisch.
    Und dann sank die Sonne. Das goldene Meer färbte sich violett, der Himmel wurde ein herrlich streifiges Feuer, in dem die Wolken zu braten schienen, der Horizont verbrannte und mit ihm der Tag.
    »Ein Schiff …«, stammelte Cuong plötzlich. Er streckte beide Arme aus, beugte sich weit vor und wäre über Bord gefallen, wenn Xuong ihn nicht an der Hose festgehalten hätte. »Ein Schiff! Seht ihr auch das Schiff? Da ist ein Schiff! Ein Schiff!« Und dann – woher nahm er noch die Kraft? – brüllte er und alle schraken auf, taumelten hoch oder krochen an die Bordwand, um sich dort hochzuziehen. »Ein Schiff! Da ist ein Schiff!« Xuong sah es auch. Ein dunkler Fleck vor der brennenden Himmelswand, ein Punkt, der langsam, ganz langsam wuchs und wuchs. Ein Punkt, der auf sie zukam.
    Mit zitternden Händen riß Xuong die Plane von dem Raketenwerfer, schob die letzte rote Patrone ins Rohr und schoß die Kugel in den Himmel. Der Fallschirm entfaltete sich, der leuchtende rote Ball schwebte über ihnen, und sie standen alle an der Bordwand, klammerten sich fest und warteten, daß auch dieser dunkle Punkt am flammenden Horizont

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