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Das goldene Meer

Das goldene Meer

Titel: Das goldene Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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einen Schulmediziner gibt es keine Wunder, ist alles rational erklärbar, auch wenn immer wieder diese Wunderheilungen in der Presse auftauchen und Millionen Menschen daran glauben. Man kann keinen Krebs wegstreicheln, es gibt keine Hände, die durch Auflegen eine Lymphogranulomatose verschwinden lassen, es ist unmöglich, durch kreisende Handbewegungen eine Lungenfibrose zu beeinflussen. Und ein Tumorschmerz ist im Endstadium nur mit Morphium zu beherrschen.
    Wirklich nur mit starken Opiaten? Ist das die Endstation der Medizin?
    Die junge Frau, die Ut hieß, ein aus dem Meer gefischter Flüchtling, von dem noch keiner weiß, wer ihn aufnimmt, wohin er kommt, wo er weiterleben darf, wenn die Politiker überhaupt so gnädig sind, ihn wahrzunehmen und sich an Humanität zu erinnern, Ut, die hier auf einem umgebauten Containerschiff in einem Lagerraum unter Deck mit fünfzig anderen Geflüchteten auf einem Holzpodium mit Decken und Bambusmatten haust und so gläubig und dankbar zu ein paar deutschen Ärzten und deutschen Seemännern aufblickt, voll Vertrauen, daß dieses Schiff sie in eine neue Welt fährt – diese unbekannte Ut aus einem Fischerdorf am Mekong-Delta von Vietnam hebt ihre Hände und streichelt Tumorschmerzen weg.
    Gibt es doch noch Wunder?
    Beim Erwachen des Tages ging Anneliese an Deck und erlebte wieder die Geburt der Sonne und des goldenen Meeres. Auf der Brückennock stand die letzte Nachtwache, winkte fröhlich, beugte sich über die Brüstung und rief hinunter: »Guten Morgen, schöne Kollegin! Was treibt Sie so früh in den Wind?«
    Sie antwortete nicht, starrte ins Meer und hatte immer wieder Ut vor Augen, wie sie den Todkranken von seinen unerträglichen Schmerzen befreite. Sie muß das täglich mehrmals tun, dachte sie. Wie Johann Pitz sagt: Der Kerl ißt nicht, er frißt. Wie kann man mit einem solch zerstörten Magen überhaupt etwas essen? Es müßte doch alles wieder ausgespien werden. Ihr fielen hundert Fragen ein, die nicht beantwortet werden konnten. Sie blieb an der Reling stehen, bis das Meer sich blau färbte und sich der wolkenlose Himmel in ihm spiegelte. Dann ging sie ins Deckshaus und zur Küche, wo Hans-Peter Winter damit beschäftigt war, frisch gebackene Brötchen aus dem Backofen zu holen.
    »Sie sind schon wach, Frau Doktor?« staunte Winter. »Es ist erst sechs Uhr!«
    »Ich habe den Duft Ihrer Brötchen gerochen und bin ihm nachgegangen. Dieser Brotgeruch ist für mich wie ein Magnet.« Sie griff in den Korb, aber bevor Winter rufen konnte »Vorsicht! Heiß!«, hatte sie schon in ein Brötchen gebissen und zerkaute es mit einem Wohlgefühl wie in Kindertagen. Es gab damals nichts schöneres für sie als ein heißes, duftendes, knackiges Brötchen, nebenan von Bäcker Beilcke.
    »Dazu eine Tasse Kaffee, Frau Doktor?« fragte Winter.
    »Haben Sie einen?«
    »Ich bin seit vier Uhr auf. Da brauche ich einen Kaffee zum Ankurbeln.«
    »Ich glaube, den habe ich jetzt auch nötig.«
    Winter brachte eine hohe Tasse schwarzen Kaffee, entschuldigte sich, daß er kein besseres Geschirr habe und sagte, als Anneliese zu einem zweiten heißen Brötchen griff: »Ich hole sofort Butter und Wurst, Frau Doktor. Sie können doch nicht trockene Brötchen essen.«
    »Bei frischen Brötchen brauche ich nichts.« Sie trank vorsichtig den heißen Kaffee, lehnte sich an die gekachelte Wand und kaute mit vollen Backen. Sie ist ein richtiger Kumpel, dachte Winter begeistert. Sie ist wirklich eine, mit der man Pferde stehlen kann. Nichts von Einbildung, kein akademisches Nasehochtragen, kein Lauttöner wie dieser Dr. Starke mit seinem affigen Gehabe … nein, sie ist ein Kumpel! Warum ist so eine tolle Frau noch nicht verheiratet?
    »Was gibt's für neuen Klatsch an Bord?« fragte sie nach dem zweiten Brötchen. Ich könnte noch eins essen, dachte sie, aber dann platzt mein Magen. Ich habe einen Hunger wie ein Wolf im Winter … woher kommt das bloß? »Sie wissen doch alles. Bei Ihnen in der Küche laufen doch alle Neuigkeiten zusammen. Wie bei uns Frauen beim Friseur.«
    »Stellinger reißt die Kim auf!«
    »Wie bitte?«
    »Verzeihung.« Winter wurde verlegen. »Bei uns sagt man das so. Der Oberbootsmann zeigt ein großes Interesse für ein vietnamesisches Mädchen. Da drüben, neben der Küche, stehen noch die Liegestühle … da haben sie gestern im Dunkeln gelegen. Und geklaut wird an Bord.«
    »Was? Das ist wirklich neu.«
    »Mir fehlen ein schweres Metzgermesser und ein Wetzstein. Das ist doch

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