Das goldene Ufer
hat Gisela zu ungeheuerlichen Dingen gezwungen. Walther muss hinzugekommen sein und ihn im Zorn erschossen haben!«
Cäcilies Überlegungen hörten sich schlüssig an. Dennoch schüttelte die Mamsell den Kopf. »Walther ist niemand, der einen anderen Menschen im ersten Zorn umbringt. Ich glaube eher, dass Gisela den Schuss abgefeuert hat, als Graf Diebold sich mit ihrem Nein nicht zufriedengegeben hat. Vielleicht tat sie es auch erst hinterher, um ihre Ehre wiederzuerlangen.«
»Sie meinen, dass Walther erst später hinzugekommen ist und die beiden dann zusammen geflohen sind?«
»Das meine ich«, sagte Luise Frähmke leise. »Möge unser Herrgott im Himmel die beiden beschützen.«
Cäcilie nickte kurz und seufzte dann tief. »Aber die Gräfin wird sie mit allen Mitteln verfolgen lassen. Sie haben ihre Schreie und ihre Drohungen doch selbst gehört.«
»Hätte sie ihren Sohn so erzogen, wie es sich gehört, müsste sie jetzt nicht vor Wut toben«, gab die Mamsell grimmig zurück. »Ich werde auf jeden Fall nicht für Diebold beten, sondern dafür, dass unsere beiden Lieblinge den Häschern entkommen und irgendwo ohne Angst und Zweifel leben können.«
»Wir werden sie nie mehr sehen – und das Kleine auch nicht. Dabei hätten Sie doch seine Patin werden sollen.« Als Cäcilie in Tränen ausbrach, schloss die Mamsell sie in die Arme und weinte mit ihr.
Am nächsten Morgen erschien ein Herr aus der Stadt, um das Verbrechen aufzunehmen und Zeugen zu verhören. Keiner der Befragten wagte es, Gräfin Elfredas Version zu bestreiten, das Försterpaar habe den Mord an ihrem Sohn mit voller Heimtücke und in Raubabsicht begangen.
Als Elfreda von Renitz dem Kriminalassessor die Beschreibung der beiden Flüchtigen gab, sahen Luise Frähmke und Cäcilie sich verblüfft und ein wenig erleichtert an, versuchten aber, niedergeschlagen dreinzuschauen, um ihre Verwunderung über die Aussage ihrer Herrin nicht zu verraten.
Hass lenkte die Zunge der Gräfin, und so bekam der Mann ein stark verzerrtes Bild von den Geflohenen. Da niemand Einwände vorbrachte, schrieb der Beamte alles so auf, wie Diebolds Mutter es ihm diktierte, fertigte auch Zeichnungen von den Gesichtern der Gesuchten an und versprach der Gräfin, dass die Steckbriefe vervielfacht und noch am selben Tag mit der Extrapost in alle Teile Preußens und der umliegenden deutschen Staaten gebracht würden.
4.
I n den nächsten Tagen wechselten Gisela und Walther mehrfach die Postkutsche und rüsteten sich neu aus. Bei einem dieser Wechsel verwendete Walther den falschen Namen aus seinem Pass, und so konnten sie die Grenze in das Kurfürstentum Kassel in der Postkutsche passieren. Das geschah aus Rücksicht auf Gisela, die völlig erschöpft und krank schien. Sie litt immer wieder unter Übelkeitsattacken, die sich mit Heißhunger abwechselten.
Da Walther immer noch nicht wusste, dass seine Frau ein Kind unter dem Herzen trug, machte er die Anstrengungen der Reise für ihren Zustand verantwortlich und schlug vor, dass sie einen oder zwei Tage in Kassel bleiben sollten, damit Gisela sich erholen konnte.
Sie schüttelte vehement den Kopf. »Das können wir uns nicht leisten, Walther. Zwar haben wir einiges getan, um unser Aussehen zu verändern, aber jeder, der unsere Beschreibung in Händen hält und uns sieht, wird uns trotzdem erkennen. Uns rettet nur Eile.«
»Sei doch still!«, flehte Walther sie an. »Wir dürfen nur über allgemeine Dinge reden und nicht über das, was geschehen ist. Wenn uns jemand belauscht, kommen wir in Teufels Küche.«
»Verzeih, das wollte ich nicht!«, antwortete Gisela geknickt und sah ihn sehnsüchtig an. Seit der Stunde, in der Diebold gestorben war, hatten sie sich nicht mehr umarmt oder geküsst. Nun wünschte sie sich, Walther würde sie in die Arme schließen und festhalten.
Er bemerkte ihren Blick jedoch nicht, denn seine Gedanken drehten sich nur um ihre Flucht. Bislang hatte noch niemand davon gesprochen, dass ein Paar wie sie wegen Mordes gesucht wurde, obwohl einige spektakuläre Verbrechen in den Gaststätten und unter den Passagieren der Postkutschen eifrig diskutiert wurden. Daher hatte er es gewagt, die Rast vorzuschlagen. Allerdings verstand er Giselas Wunsch, nicht lange an einem Ort zu verweilen, und legte sich im Stillen ihre nächsten Etappen zurecht. Er rechnete sich aus, dass sie in vier, spätestens in fünf Tagen Wiesbaden erreichen konnten. In dieser Richtung würden sie sowohl die zu Preußen
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