Das goldene Ufer
gehalten und sich des Mädchens angenommen hatte. Unterwegs war ihm viel Bettelvolk aufgefallen, das halb verhungert in zerlumpten Kleidern durch das Land zog. Der Gedanke, Gisela könnte gezwungen sein, sich diesen bedauernswerten Menschen anzuschließen, hatte ihn zutiefst erschreckt, und er begriff nun erst richtig, dass der Zug dieser Elenden auch sein Schicksal sein würde, falls der Graf ihn verstieß. Genau wie das Mädchen hatte er keine Eltern mehr, und es gab auch keine Verwandten, bei denen er Unterschlupf suchen konnte.
»Wir schaffen das schon, Gisela«, sagte er mit einem Lächeln, das aufmunternd wirken sollte.
In dem Augenblick machte der Weg eine Kurve. Der Wald blieb hinter ihnen zurück, und sie sahen den Herrensitz der Grafen Renitz in voller Pracht vor sich liegen. Ein Stück weiter unterhalb waren der Gutshof und das zur Herrschaft gehörende Dorf zu erkennen. Walther blickte sehnsüchtig zu dem kleinen Häuschen hinüber, in dem seine Mutter und er gelebt hatten. Nun wohnten andere darin, und er hatte keinen Anspruch mehr darauf. Dabei wäre er am liebsten vom Wagen gesprungen und hätte in der Kate Zuflucht gesucht, anstatt mit zum Schloss zu fahren. Wenn er ehrlich zu sich war, musste er sich eingestehen, dass dies in erster Linie an Gräfin Elfreda lag.
Graf Renitz’ Gemahlin hatte den Besitz verwaltet, seit dieser sie 1799 geheiratet hatte und kurz darauf wieder ins Feld gezogen war. Schon damals hatte sie dem Vernehmen nach ein scharfes Regiment geführt. Dessen Auswirkungen würde er in Zukunft wohl noch öfter zu spüren bekommen als früher – und Gisela ebenfalls. Walthers Freude, wieder daheim zu sein, war mit einem Schlag verflogen. Nun hockte er stumm auf dem Wagen, hielt Giselas Linke fest, als sei sie sein einziger Halt, und starrte auf den gepflegten Park. Dort wurde eben das Tor der Umfriedung geöffnet, die das Schloss und die Gärten vom Umland trennte.
Der Pförtner, ein alter, einbeiniger Mann, stand auf seine Krücke gelehnt da und sah den Ankömmlingen entgegen. Nichts an seiner Miene verriet, ob er die Rückkehr seines Herrn begrüßte oder nicht. Als der Graf an ihm vorbeiritt, riss er den aus der Form geratenen Filzhut vom Kopf und deutete eine Verbeugung an. Dann musterte er den Wagen, dessen Gespann ein aus dem Dienst geschiedener Veteran des Regiments lenkte, und winkte Walther zu, den er fast von Geburt an kannte.
Die Anwesenheit des Mädchens schien ihn zu wundern, und er sah prüfend hinter Graf Renitz her. Sollte sein Herr etwa einen unehelichen Bastard in die Welt gesetzt haben und mit nach Hause bringen wollen? Nein, das konnte sich der Pförtner nicht vorstellen. Der Graf war ein aufrechter Mann, der sich keine Schwäche erlaubte. Auch war das Mädchen dafür nicht gut genug gekleidet. Schließlich sagte der gute Mann sich, dass er sich nicht den Kopf über andere Leute zerbrechen sollte, und wartete, bis auch der Bursche des Grafen und der junge Herr das Tor passiert hatten. Dann schloss er es wieder und kehrte in seine Kate zurück.
Unterdessen rollte der Wagen den gekiesten Weg zum Schloss entlang und blieb auf ein Zeichen des Grafen vor der breit auslaufenden Freitreppe stehen, die zum Hauptportal hochführte. Dieses war verschlossen und öffnete sich auch nicht sofort. Renitz starrte es verärgert an und wollte schon seinem Burschen Befehl geben, vom Pferd zu steigen und den Türklopfer anzuschlagen. Da schwang das Tor langsam auf, und Gräfin Elfreda trat heraus.
Obwohl Walther bis vor einem Jahr hier gelebt hatte, war er der Frau noch nie so nahe gewesen wie an diesem Tag. Groß war die Gräfin ihm schon immer erschienen, doch nun begriff er, von wem Diebold die lange, schmale Gestalt geerbt hatte. Die Frau überragte sogar noch ihren Mann, der aus dem Sattel gestiegen war und auf sie zuging. Einen Augenblick sah es so aus, als wolle er sie in die Arme nehmen, küsste dann aber nur die ihm dargebotene Hand.
Nun war auch der Altersunterschied zwischen der Gräfin und ihrem Gemahl deutlich zu erkennen. Elfreda von Renitz hatte ein schmales, hübsches Gesicht und eine Fülle hellblonden Haares, dessen Farbe sie ebenfalls ihrem Sohn vererbt hatte. Die Haut wirkte faltenlos und verlieh ihr einen jugendlichen Glanz, während ihr Mann beinahe greisenhaft gebeugt neben ihr stand, mit grauem Haar und einem Gesicht, das Wind und Sonne auf unzähligen Feldzügen zerfurcht hatten.
Walther erinnerte sich, dass seine Mutter einmal gesagt hatte, der Graf
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