Das Gottesmahl
»Kein
Affentheater.«
Der Arzt schlang den Arm um Gabriels Schulter und geleitete ihn
aus dem Saal wie ein pflichtgetreuer Sohn, der seinen Vater durch den
Korridor einer Krebsstation führt.
Thomas’ Blick haftete noch auf der leeren Bildfläche.
Gottes Leichnam? Gott hatte einen Körper? Was waren die
kosmologischen Implikationen dieser erstaunlichen Behauptung? War er
wirklich dahin, oder hatte sein Geist lediglich eine
äußere Hülle aufgegeben? (Gabriels Trauer legte den
Schluß nahe, daß sich kein Anlaß zur
Beschönigung der Situation fand.) Existierte der Himmel noch?
(Da das Jenseits im wesentlichen aus der Gegenwart Gottes bestand,
lautete die Antwort logischerweise »Nein«, aber sicherlich
verlangte die Angelegenheit eine umfassendere Untersuchung.) Wie
stand es um den Sohn und den Heiligen Geist? (Einmal angenommen, die
katholische Theologie galt noch etwas – dann mußten diese
Personen, weil die Dreieinigkeit ipso facto unteilbar war,
jetzt auch verschieden sein; aber darüber zu entscheiden, mochte
angemessenheitshalber wohl zur Sache einer Synode oder vielleicht
sogar eines Vatikanischen Konzils werden.)
Er wandte sich an die beiden anderen Kleriker. »Ich sehe da
einige Probleme.«
»Seit letzten Dienstag tagt eine geheime
Kardinalsversammlung«, antwortete der Papst und nickte.
»Das gesamte Kardinalskollegium hat sich die Nacht zum Tag
gemacht. Es behandelt das ganze Fragenspektrum: Todesursache,
Aussicht einer Auferstehung, die Zukunft der Kirche…«
»Wir wüßten gern, ob Sie den Auftrag annehmen,
Pater Ockham«, sagte di Luca. »Die Valparaíso wirft schon in fünf Tagen Anker.«
Thomas atmete tief durch, genoß diesen köstlichen
Augenblick gründlicher Scheinheiligkeit. Unter alltäglichen
Umständen neigte Rom heutzutage dazu, die Jesuiten als
entbehrlich zu betrachten, als ein Mittelding zwischen Ärgernis
und Bedrohung: Im Sommer 1773 zum Beispiel hatte Clemens XIV. den
Orden sogar verboten und den Jesuitengeneral im Castel Sant Angelo
eingekerkert. Aber wen holte der Vatikan jetzt, da der Lack ab war,
aus der Versenkung? Die treuen, unerschütterlichen Soldaten
Ignatius von Loyolas, niemand anderes.
»Darf ich sie behalten?« Thomas las eine verstreute
Feder vom Fußboden auf.
»Von mir aus«, sagte Innozenz XIV.
Thomas’ Blick ruckte zwischen dem Papst und der Feder hin und
her. »Ein Punkt auf der Tagesordnung, die Sie erwähnt
haben, verwirrt mich.«
»Sind Sie einverstanden?« fragte di Luca.
»Welcher Punkt?« wollte der Papst wissen.
Schwacher Glanz drang aus der Feder, als wäre sie eine aus
dem Talg eines verirrten, verlorenen Lamms angefertigte Kerze.
»Die Auferstehung.«
Auferstehung: Thomas’ Gedanken kreisten um das Wort wie um
eine Verheißung, während er am Union Square der
Feuchtschwüle der U-Bahnstation entstieg und die 14.
Straße hinabstrebte. Natürlich war alles hochgradig
spekulativ; die Verfallsrate, die di Luca für das
Zentralnervensystem des Höchsten Wesens festgelegt hatte
(zehntausend Neuronen pro Minute), grenzte ans Willkürliche.
Aber unterstellte man einmal, daß diese Annahme
einigermaßen der Wahrheit entsprach, ließ sich daraus
eine ermutigende Schlußfolgerung ableiten. Nach OMNIPATER 2000,
dem Zentralcomputer des Vatikans, wäre er dann nicht vor dem 18.
August hirntot, so daß theoretisch eine ausreichende Frist
blieb, um ihn zur Arktis zu befördern; allerdings mußte
man berücksichtigen, daß der Computer auf unzureichendes
Datenmaterial hingewiesen, also seine Prognose quasi nur unter
Protest getroffen hatte.
Die Juniluft lastete bedrückend auf Thomas’ Fleisch,
bildete einen stickigen Mantel purer Manhattan-Hitze. Schweiß
machte sein Gesicht schlüpfrig, die Bifokalbrille rutschte ihm
die Nase hinunter. Auf beiden Gehwegen packten
Straßenhändler ihre eingeschweißten Musikkasetten,
falschen Cartier-Uhren und spastischen Aufziehteddybären
zusammen, luden sie in ihre Kombis. Aus Thomas’ Sicht vereinte
der Union Square die Exotik von Tausendundeine Nacht mit der
fundamentalen Banalität des amerikanischen Kommerz, als
wäre ein persischer Basar des Mittelalters ins zwanzigste
Jahrhundert versetzt und von Woolworth aufgekauft worden. Die
Händler und ihre Kunden trugen einheitlich gleichgültige
Mienen zur Schau, starre Gesichter, die Reizüberflutung und
Überdruß an der Welt widerspiegelten, typische Kennzeichen
der großstädtischen Unterschicht. Thomas beneidete sie um
ihre Unwissenheit. Welche Sorgen sie
Weitere Kostenlose Bücher