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Das Gottesmahl

Das Gottesmahl

Titel: Das Gottesmahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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auch haben mochten, in welchen
Abhängigkeiten sie standen, was für Schlappen sie erleiden
mußten, wenigstens durften sie sich noch mit der Vorstellung
trösten, ein lebendiger Gott wachte über ihren
Planeten.
    Thomas bog nach rechts in die Zweite Avenue ein, ging zwei Blocks
weit südwärts, zog Gabriels Feder aus der Brusttasche und
erstieg die Stufen einer verkommenen Mietskaserne aus braunem
Sandstein. Halbmondförmige Schweißflecken
näßten die Achselhöhlen seines schwarzen Hemds,
klebten die Baumwolle auf die Haut. Er las die Namensschilder
(Goldstein, Smith, Delgado, Spinelli, Chen: noch mehr New Yorker
Pluralismus, ein neuer Ausblick aufs Gottesreich), drückte
schließlich die Klingeltaste neben dem Schildchen mit der
Beschriftung v. Horne 3. hint.
    Ein metallisches Summen tönte aus dem Türschloß.
Thomas öffnete die Tür und erklomm drei nach Schimmel
riechende Stiegen, bis er Auge in Auge mit einem großen, auf
diffuse Weise gutaussehenden Bärtigen stand, der nur ein
makellos weißes Badetuch um die Taille gewickelt hatte. Der
Mann war von Kopf bis Fuß naß. Die Tätowierung einer
Seejungfrau, die Rita Hayworth ähnelte, zierte seinen linken
Oberarm.
    »Als erstes müssen Sie mir erklären«, forderte
Anthony van Horne, »daß ich wirklich nicht verrückt
bin.«
    »Wenn Sie verrückt wären, müßte ich es
auch sein, und ebenso wär’s der Heilige Stuhl.«
    Van Horne verschwand in die Wohnung und kehrte mit einem
Gegenstand zurück, der Thomas sowohl wegen der erschreckenden
Vertrautheit wie auch eschatologischen Bedeutung innerlich
aufwühlte. Wie Mitglieder eines Geheimbunds bei einem
Erkennungsritual hielten sie jeder eine Feder empor, drehten sie in
der schwülen Luft. Für einen kurzen Moment herrschte
zwischen Anthony van Horne und Thomas Ockham, den einzigen
nichtpsychotischen Menschen in New York, die je mit Engeln gesprochen
hatten, ein stummes, inniges Einverständnis.
    »Kommen Sie rein, Pater Ockham.«
    »Nennen Sie mich Thomas.«
    »Wollen Sie ’n Bier?«
    »Sicher.« Bei van Horne sah es anders aus, als Thomas
erwartet hatte. Die Behausung eines Kapitäns sollte nach seinem
Empfinden ein dem Meer verbundenes Flair haben. Wo waren die
Riesenmuscheln von Bora Bora, die Steinelefanten aus Sri Lanka, die
Stammesmasken aus Mozambique? Sunkist-Packkisten als Stühle und
eine große Kabeltrommel als Kaffeetisch paßten eher zu
einem arbeitslosen Schauspieler oder einem hungerleidenden Bildhauer
als zu einem beruflich erfolgreichen Seemann wie van Horne.
    »Ist Ihnen ’n Old Milwaukee recht?« Im Krebsgang
schob sich der Kapitän in die Küchenecke. »Besseres
kann ich mir nicht leisten.«
    »Klar.« Thomas setzte sich auf eine Frachtkiste.
»Ihr Niederländer seid immer schon Handelsfahrer gewesen,
nicht wahr? Sie mit Ihren fluyschips. Dieses Leben liegt Ihnen
im Blut.«
    »Ich halte nichts vom Blut«, sagte van Horne, entnahm
dem Kühlschrank zwei beschlagene braune Flaschen Old
Milwaukee.
    »Aber Ihr Vater… war doch auch schon Seemann,
oder?«
    Der Kapitän lachte. »Er war nie was anderes. Bestimmt
kein Vater. Und auch kein richtiger Ehemann. Er vergeudete jeden
Urlaub, indem er auf ’m Trampschiff im Südpazifik
rumschipperte, weil er hoffte, auf ’ne noch unentdeckte Insel zu
stoßen. Der arme Alte konnte sich nie damit abfinden, daß
die Welt längst kartografiert ist, es keine terra incognita mehr gibt.« Van Horne kam ins Wohnzimmer
zurückgeschlurft und reichte Thomas ein Old Milwaukee.
»Manchmal hat er meine Schwester und mich mitgenommen. Aber
meistens nicht.«
    »Und Ihre Mutter? War sie auch eine Träumerin?«
    »Meiner Mutter sind Schiffe zuwider gewesen. Sie war
Bergsteigerin. Ich glaube, sie hatte den Drang, so hoch wie
möglich übers Meer hinauszuklettern. Ein gefährliches
Leben, viel gefahrvoller als die Handelsmarine. Als ich vierzehn war,
ist sie am K zwo abgestürzt. Sie hat das Bewußtsein nicht
mehr wiedererlangt.« Der Kapitän lockerte das Badetuch und
kratzte sich am flachen, straffen Bauch. »Haben wir inzwischen
eine Mannschaft beisammen?«
    »Ach herrje, entschuldigen Sie.« Gleichzeitig als in
Thomas Mitgefühl anschwoll, das stärkste Mitfühlen,
das er je verspürt hatte, ereilte ihn eine sonderbare Anwandlung
der Erleichterung. Anscheinend lebten sie in keinem kontingentierten
Universum, sondern in einer Welt, die keiner ständigen
Erneuerung durchs Göttliche bedurfte. Der Schöpfer war
abgetreten, doch seine sämtlichen wesentlichen

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