Das Gottesmahl
Runen-Alphabet
zusammenschmierten –, und dieser Entlarver war Barclay Cabot.
Der blendend aussehende Cabot genoß Medienpräsenz. Er zog
die Kameras regelrecht auf sich. In sämtlichen großen
Talkshows war er schon aufgetreten und hatte aufgedeckt, wie
Scharlatane, ohne tatsächlich zu derlei imstande zu sein,
Löffelbiegen und Gedankenlesen vortäuschten.
Als erstes schilderte er die entstandene Krisensituation. Vor zwei
Wochen hatte die texanische Legislativen sich dafür entschieden,
sämtliche Hochschulen des Bundeslandes von allen Texten zu
säubern, die dem sogenannten ›Wissenschaftlichen
Kreationismus‹ kein ›gleiches Recht‹ neben der
Selektionstheorie einräumten. Nicht daß die Philosophische
Liga für moderne Aufklärung das Ergebnis des Endkampfs
zwischen der Gott-Hypothese und Darwin bezweifelt hätte. Die
Fossilien schrien ihre evolutionäre Entstehung geradezu heraus;
die Chromosomen pochten auf ihre Abstammung; die Felsen
verkündeten ihr Steinalter. Vielmehr befürchtete die
Philosophische Liga, daß Amerikas Schulbuchverleger es der
Einfachheit halber vorzogen, sich vor einem Konflikt zu drücken
und das gleiche Bild der Memmenhaftigkeit wie in den vierziger und
fünfziger Jahren zu bieten, indem sie überhaupt jede
Erwähnung der menschlichen Abkunft ausließen. Aber
unterdessen würde jeden Sonntag unwidersprochen der
Kreationismus propagiert.
In verschwörerischem Ton unterbreitete Barclay Cabot den von
seinem Komitee erarbeiteten Plan. Im Schutze der Nacht sollte ein
Grüppchen Vereinsmitglieder, eine Art von atheistischer
Kommandotruppe, über den ausgedehnten Rasen der Zentralen
Baptisten-Kirche in Dallas robben – »das Pentagon des
Christentums« nannte Cabot sie –, ein Kellerfenster
aufstemmen und in die Kirche eindringen, dort ins Kirchenschiff
schleichen und sich im Gestühl verteilen; dann die
Swingline-Heftmaschinen zücken und in jede der ausgelegten
Bibeln zwischen Inhaltsverzeichnis und Genesis säuberlich eine
dreißigseitige Zusammenfassung von Über die Entstehung
der Arten heften.
Gleiches Recht für Darwin.
Was für ein kühnes Szenario, dachte Oliver, so kühn
wie damals, als sie auf der Bostoner Festwiese eine Erscheinung der
Jungfrau Maria inszeniert, so verwegen auch wie ein anderes Mal, als
sie in Salt Lake City eine Anti-Abtreibungsdemonstration desavouiert
hatten, indem sie auf der anderen Straßenseite die verschrieene
Rockgruppe Fick vorm Frühstück ›Die
stärkste Droge ist unser Jesus‹ singen ließen.
»Wer ist für die konzipierte
Gegenaktion…?«
Ein siebzehnfaches Ich hallte durch den Westsaal der
Montesquieu-Halle.
»Wer ist dagegen…?«
Erwartungsgemäß stand die streitsüchtige
Archivarin der Philosophischen Liga auf, Sylvia Endicott.
»Nein«, sagte sie, knurrte das Wörtchen mehr als sie
es sprach. »Nein und nochmals nein.« Sylvia Endicott: das
älteste lebende Schlachtroß des Skeptizismus, die Frau,
die in ihrer rebellischen Jugend erfolglos eine Kampagne zur
Entfernung des Mottos WIR VERTRAUEN AUF GOTT von den Münzen der
Nation betrieben und einen genauso vergeblichen Kampf darum
geführt hatte, in Kansas City an der Straßenecke, wo der
Allmächtige von Sinclair Lewis ungeahndet aufgefordert worden
war, ihn niederzustrecken, eine Gedenktafel anzubringen. »Ihr
kennt meine Meinung zum Wissenschaftlichen Kreationismus – o
Ausbund des Oxymorons! Ihr wißt, was ich von den Baptisten in
Dallas halte. Aber mal im Ernst, Leute, diese angebliche
›Gegenaktion‹ ist ja bloß eine Posse. Wir sind doch
kein Dick-und-Doof-Club, herrje, wir sind die Erben von
François-Marie Arouet de Voltaire.«
»Die Mehrheit ist dafür«, entgegnete Oliver. Er
hatte wenig übrig für Sylvia Endicott, die geschwollenes
Zeug wie O Ausbund des Oxymorons daherredete, sobald sie etwas
von sich geben durfte.
»Wann überwinden wir endlich den Dilettantismus und
machen Nägel mit Köpfen?« krittelte Sylvia Endicott.
»Ich kann mich noch an eine Zeit erinnern, da hätte unsere
Vereinigung die texanische Legislative wegen faktischer
Zensurausübung verklagt.«
»Möchtest du einen Antrag stellen?«
»Nein, ich will, daß wir Rückgrat
zeigen.«
»Steht noch irgend etwas an?«
»Rückgrat, Leute, Rückgrat.«
»Steht noch irgend etwas an?« fragte Oliver ein zweites
Mal.
Schweigen. Auch Sylvia Endicott hielt den Mund: Die
personifizierte Krönung des gesunden Menschenverstands sank
zurück in den Sessel. Im Kamin knisterte munter das Feuer.
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