Das Gottesmahl
nicht
kennt…«
Guter, alter Oliver. Er hatte immer zu ihr gehalten, o ja, schon
in der Zeit, als sie noch eine unbeliebte Stückeschreiberin war
und er ein linker, verkannter Maler, der schweinisch finstere
Stadtlandschaften auf die Leinwand bannte, während er der
Auszahlung des für ihn zurück- und angelegten
Vermögens harrte. Wenn sie deprimiert im Keller eines
Kneipentheaters auf der Broome Street oder des Avenue-D-Pfandhauses,
einigen dieser versifften Kakerlakenbrutstätten, die den Nerv
aufbrachten, sich Broadway-Nebenbühnen zu nennen (eine
Straße weiter, und sie wäre in Queens gewesen) gesessen
und sich eine verheerende Probe von Runkleberg oder Gott
ohne Tränen angesehen hatte, war oft auf einmal Oliver
erschienen, selbst drei Uhr morgens, reichte ihr schwarzen Kaffee und
Muffins, beteuerte ihr, sie sei der Jonathan Swift der Lower East
Side.
Kaum hatte Cassie die Papierschnitzel in den Portugalstrom
geworfen, da kam Anthony van Horne höchstpersönlich,
gekleidet in seine Nautiv-Rettungstechnik-Windjacke und
John-Deere-Schirmmütze, in den Ausguck. Unversehens befielen
Cassie Gewissensbisse. Der Mann hatte ihr das Leben gerettet, und sie
zettelte eine Verschwörung an, um seine Pflichterfüllung zu
sabotieren.
»Sie haben Glück, Matrose«, wandte van Horne sich
an Ralph Mungo. »Ich übernehme Ihre Wache.« Am rechten
Auge hatte der alte Vollmatrose eine große, blaurote, mit
Göttlichem Wunderschmand beschmierte Prellung.
»Einverstanden?«
»Aye-aye, Sir.« Mungo grinste, salutierte, schnippte den
Zigarettenstummel über Bord und kraxelte die Leiter hinauf.
»Betreiben Sie Sterngucken?« fragte der Kapitän
Cassie.
»So etwas ähnliches.« Cassie setzte die
Thermoskanne an die Lippen und trank einen großen Schluck
schwarzen Kaffees. Sie begegnete ihm jetzt hier zum fünftenmal.
Daher vermutete sie, daß er die Gelegenheit suchte – eine
schmeichelhafte Vorstellung, aber daß ihr Gegenspieler für
sie eine Schwäche entwickelte, war das letzte, worauf sie
momentan Wert legte. »Ich habe beschlossen, die Sternbilder
umzubenennen.« Sie deutete an den Nachthimmel. »Meinen Sie
nicht auch, daß es an der Zeit für eine gänzlich
amerikanische Mythologie ist? Schauen Sie, das da ist der Mythos der
Kleinfamilie. Dort der Mythos Gleichheit. Daneben sehen Sie Friede,
Freude, Eierkuchen.«
»Sie haben was gegen unser Schleppgut,
stimmt’s?«
Cassie nickte. »Darum halte ich mich so gerne hier vorn auf,
so weit weg von dem Kadaver, wie’s geht, ohne ins Wasser zu
fallen. Und wie steht’s mit Ihnen? Haben Sie nichts gegen
ihn?«
»Ich habe ihn nie gekannt.« Der Kapitän
gähnte; der Reflex griff um sich, dehnte sich auf Gesicht und
Schultern aus. »Ich weiß nur, daß es mir bestens
bekommt, wieder auf See zu sein.«
»Sie sind übermüdet, Sir.«
»Wir haben uns bemüht, sein Blut in die Tanks zu pumpen
– zu dem Zweck, die Geschwindigkeit zu erhöhen –, nur
läßt der Hals sich nicht anstechen.« Er gähnte
ein zweites Mal und ebenso kräftig. »Aber am schlimmsten
ist… ich weiß nicht recht, wie ich’s nennen soll,
Cassie. Die Anarchie. Ist ihnen das Bläuchen des
Vollmatrosen aufgefallen? Stammt von ’ner Schlägerei. Die
vergangene Woche war voller Prügeleien und
Vergewaltigungsversuche, und vielleicht ist sogar ein Mord passiert.
Ich mußte drei Männer ins Loch stecken.«
Ein sonderbares Gefühlsgemisch aus Besorgnis und Ärger
durchkroch Cassie. »Ein Mord? Na so was… Wen hat’s
erwischt?«
»Einen Seemann mit Namen Zook. Er ist in ’m Ladungstank
gasvergiftet worden. Ockham ist der Ansicht, wir stünden unterm
Bann des Leichnams. Nicht der Leiche selbst, sondern ihrer geistigen
Auswirkungen. Nachdem Gott von der Bildfläche verschwunden ist,
haben die Menschen ihren hauptsächlichen Antrieb zu moralischem
Betragen verloren. Sie können nicht der Versuchung widerstehen,
das Sündigen zu erproben.«
Wie sie es immer tat, wenn sie intellektuell unhaltbare Argumente
hörte, schob Cassie die linke Hand in die Tasche und kniff sich
in die Innenseite des Oberschenkels, um sich zur Mäßigung
zu ermahnen. »Können nicht widerstehen? Nun machen Sie aber
mal ’n Punkt, Anthony. Das ist doch bloß ein Alibi. Raffiniert ausgedacht, aber nichts als ein Alibi. Ihre
Seeleute… Wenn Sie meine Meinung erfahren möchten, sie
benutzen den Kadaver lediglich als Vorwand für ihre Vergehen.
Gottes Tod bietet ihnen eine bequeme Ausrede.«
»Ich bin der Auffassung, daß die Gründe
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