Das Gottesmahl
haben.« Eine
völlig widersinnige Theorie, stellte Cassie bei sich fest,
während sie den Rest des Kaffees trank. »Auf alle
Fälle ist es purer Blödsinn.« Der Wind kühlte ab,
sie spürte ihn eisig auf den Wangen, kalt an den Fingern. Sie
zog an Lianne Bliss’ Friesennerz den Reißverschluß
bis zum Anschlag hoch. »Ich muß mir von Follingsbee
heißen Kakau besorgen.«
Der Kapitän hob den Kopf. Verkleinerte Sternbilder glommen
auf beiden Flächen seiner Spiegelbrille. »Im Traum sehe ich
Vögel fliegen.«
»Vögel? Papageien, meinen Sie?«
»Blaureiher, Löffler, Ibisse… sie triefen von
Öl. Ich dusche, aber es nutzt nichts. Nur mein Vater kann…
Verstehen Sie?«
»Nein, überhaupt nicht. Aber selbst falls ’s
verständlich wäre… Was würde, wenn Ihr
Vater in dieser Art von Freisprechung auch nur eine Art von Geschenk
sieht? Wenn er Ihr Gewissen reinspricht und später, schwupp,
auch das zurücknimmt?«
»So was täte er nicht.«
»Der Mann, der Ihnen dieses Fax geschickt hat« –
Cassie wies auf die Ausbeulung in van Hornes Jacke – »ist
kein vertrauenswürdiger Mensch.« Sie erkletterte die
Leiter, suchte weniger vor der plötzlichen Kühle das Weite
als vor diesem wirrköpfigen, furchteinflößenden,
seltsam verlockenden Mann, einem Kapitän, der von
ölverschmutzten Reihern träumte. »Wissen Sie was, Sir?
Wenn wir wieder in New York sind, schenke ich Ihnen einen roten
Ara.«
»Das wäre ja ’n starkes Stück,
Doktor.«
»Und soll ich Ihnen noch was sagen?« Auf der obersten
Sprosse verhielt Cassie. »Es ist nicht verboten, Ihr Schleppgut
zu hassen. Vielmehr ist es ohne weiteres erlaubt und angebracht, es
zu verabscheuen.«
3. August
Am heutigen Tag im Jahres 1924, steht in meinem
Handelsmarine-Taschenkalender, »verstarb in Bishopsbourne,
England, Joseph Conrad, Autor von Lord Jim, Taifun und anderer
Klassiker des Seeabenteuers.«
Als erstes die gute Neuigkeit. Aus Gründen, die sie selbst
wohl am besten kennen, haben die Raubtiere das Handtuch geworfen. Was
die Geier und Seeschlangen betrifft, lautet meine Vermutung,
daß wir uns inzwischen zu weit von ihren heimatlichen Gefilden
entfernt haben. Und was die Haie angeht – wer kann schon
beurteilen, was sich in ihren alten, urtümlichen Gehirnen
abspielt?
Heute morgen habe ich Rafferty sämtliche
Raubtierbekämpfungsmittel einsammeln, die Raketengeschosse und
die Harpunen entnehmen und die leeren Waffen im Bugfrachtraum bunkern
lassen. Wir haben an dem Krempel keinen Bedarf mehr, und in der
gegenwärtigen, anarchistischen Atmosphäre kann ich mir
leicht vorstellen, daß dieser oder jener Matrose ein
Harpunengewehr oder ein Raketenstartgerät zu Mordzwecken
mißbraucht.
Noch einmal ist versucht worden, die rechte Halsschlagader
anzuzapfen, und es ist uns wieder mißlungen, aber das ist nicht
als die eigentliche schlechte Neuigkeit zu betrachten.
Mit den Keilereien und Diebstählen nimmt es kein Ende, aber
auch das ist nicht die wirklich schlechte Neuigkeit.
Die wahre schlechte Neuigkeit ist das Wetter.
Über den Daumen gepeilt müssen wir uns rund 50 Seemeilen
südlich der Azoren befinden. Sicher zu sein ist schwierig, weil
die Marisat-Signale uns nicht mehr erreichen, und in jeder Richtung
kann man höchstens 20 m weit sehen. In normalem Nebel finde
ich mich zurecht, aber was uns hier umgibt, ist etwas anderes, eine
dermaßen dicke Erbsensuppe, daß beide Radaranlagen sie
nicht durchdringen können. Die Sextanten sind völlig
nutzlos.
Vor einer Stunde habe ich Pater Ockham unsere Optionen dargelegt.
Entweder brechen wir die Funkstille und fragen bei der
portugiesischen Küstenwache an, wo wir eigentlich stecken, oder
wir reduzieren die Geschwindigkeit aufs Schneckentempo, damit wir
keine Azoreninsel rammen.
»Auf vier Knoten oder so, meinen Sie?«
»Eher auf drei Knoten.«
»Bei der Geschwindigkeit ist der Termin nicht
einzuhalten«, konstatierte der Pater.
»Ganz genau.«
»Dann sterben seine Neuronen.«
»Ja, falls noch welche übrig sind.«
»Was wäre Ihnen lieber?« wünschte Ockham von
mir zu erfahren.
»Rafael hat keine Neuronen erwähnt«, habe ich
geantwortet.
»Gabriel auch nicht. Sie möchten also
verlangsamen?«
»Nein, ich möchte sein Hirn retten.«
»Ich auch, Anthony. Ich auch.«
Um 13 Uhr 55 haben wir die Funkstille gebrochen. Ich glaube,
insgeheim ahnten wir, daß es ein Flop wird. Der verfluchte
Nebel verschluckt alles, was wir zu senden imstande sind: Kurzwellen,
CB-Funk,
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