Das Gottesmahl
tiefer
liegen.« Anthony van Horne langte in die Windjacke und
zückte ein Blatt beigen, mit schwarzer Schrift besudelten
Papiers, und für einen Augenblick befürchtete Cassie, er
hätte die Absicht, sie mit einer Abschrift von Olivers Fax zu
konfrontieren und zur Rede zu stellen. »Tun Sie mir einen
Gefallen, Doktor. Lesen Sie diesen Brief. Er ist von meinem
Vater.«
Das Schreiben war mit der Hand auf Briefpapier der Exxon- Reederei geschrieben worden. Cassie empfand die enge,
nachlässig hingeworfene Schrift als merkwürdig feminin.
Lieber Anthony,
Deine Idee, mich zu besuchen, halte ich für nicht so
gut. Gäste machen Tiffany schnell nervös, und
wahrscheinlich willst Du wieder ewig auf alten Streitigkeiten
herumhacken, wie der Geschichte…
»Ich habe den Eindruck, es ist ein sehr persönlicher
Brief.«
»Lesen Sie ihn trotzdem.«
… mit dem Papagei. Ob Du es glaubst
oder nicht, zu meiner Vorstellung von einem erholsamen
Ruhestand gehört keineswegs, daß mein Ältester
angetanzt kommt und mich anschreit.
Du solltest keinesfalls denken, ich wäre über Deinen
Brief nicht freudig überrascht gewesen. Du bist ein
tüchtiger Seemann, mein Sohn. Leicht konfus, aber
fähig. Du hast es verdient, daß Du wieder das
Kommando über die Valparaíso hast.
Allerdings ist mir unklar, wozu der Vatikan einen Supertanker
braucht. Transportierst Du Weihwasser, oder was?
Alles Gute
Vater
»Na, was halten Sie davon?«
»Wer ist Tiffany?«
»Meine Stiefmutter. Schauderhafte alte Dschunke. Was will er
mir mit diesem Brief sagen?«
Ein demütigendes Gefühl der Beschränktheit
beschlich Cassie. Bisher waren die schwersten Bürden, die sie im
Leben zu tragen gehabt hatte, nur gehässige Kritiken in der Village Voice und dumpfbackigen Schülern in ihren Klassen
gewesen, hingegen nichts, was sich nur im entferntesten mit einem
abweisenden Vater, unanstechbaren Riesenhals oder einer in Verbrechen
und Laster abgesunkenen Supertankercrew hätte vergleichen
lassen. »Ich bin keine Psychologin… Aber wenn er Ihnen
vorwirft, Sie würden wegen ›alter Streitigkeiten‹
schmollen, sagt er damit vielleicht in Wirklichkeit, er hegt gegen
Sie Groll.«
»Natürlich hat er ’n Groll gegen mich. Ich
habe in der Matagorda-Bucht seine Ehre befleckt. Den Namen der
Familie durch ein Ölbad gezogen.«
»Was ist das für eine ›Geschichte mit dem
Papagei‹?«
Anthony schnaubte, verzog das Gesicht und setzte die Spiegelbrille
auf.
»Zu meinem zehnten Geburtstag hatte Vater mir aus Guatemala
einen roten Ara mitgebracht.«
»Art Psittaciformes. Familie Psittacidae.«
»Ja. Schöner Vogel. Er konnte Spanisch sprechen,
Sätze wie ›Vaya con Dios‹ und ›¿Qué
pasa?‹ Ich habe versucht, ihm ›Die Lappen hoch, wir wollen
sailen‹ beizubringen, aber es hat nicht geklappt. Weil es ein
Weibchen war, bekam es von mir den Namen Dolly. Und was stellt Vater
vier Monate später an? Auf einmal ist er der Ansicht, Dolly
kostet uns zuviel an Futter und Arztrechnungen, außerdem ist
sie laut und schmutzt, also fährt er mit mir und dem Vogel zu
einer Tierhandlung und sagt an der Ladentheke: ›Falls irgendwer
daherkommt und will das elende Vieh kaufen, machen wir
halbe-halbe.‹«
»Wie gemein.«
»Er hat immer ’n Hang zu so was gehabt. Als ich dann elf
war, hatte ich als größten Weihnachtswunsch ein
Revell-Plastikmodell der USS Constitution, Maßstab eins
zu zweiundvierzig, zweihundertdreißig Teile, echtes Tuch
für die Segel. Gut, Vater kauft mir den Bausatz, aber erlaubt
mir nicht, ihn zusammenzubauen. Er behauptet, dabei käme Murks
heraus.«
»Statt dessen hat er selber ihn gebaut?«
»Ja genau, aber dann folgte das Tollste. Er beauftragte
’n Glasbläser in Wilmington damit, das Schiff in ’n
großen, grünen Glasbottich zu hüllen. Damit
ich’s nicht anfassen kann, ja? Ich kann nicht mit der Constitution spielen, sie nicht mal in die Hand nehmen. Sie
ist eigentlich nicht mein Schiff.« Anthony nahm das Fax wieder
an sich, knüllte es zusammen und stopfte das Knäuel in die
Jackentasche. »Das Problem ist, ich brauche den
Sauhund.«
»Nein, ach was.«
»Er ist der einzige, der mich vom Öl reinwaschen
kann.«
»Vom Öl der Matagorda-Bucht?«
»Jawohl. Ich werde nicht davon frei sein, bevor Vater mich
anblickt und zu mir sagt: ›Junge, du hast gute Arbeit geleistet.
Du hast Ihn in Seine Gruft gebettet.‹«
»Ach, hören Sie auf.«
»Ich weiß es geradewegs von Rafael.«
»Es ist mir egal, von wem Sie’s
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