Das Grab des Tauren
brauchst«, sagte der Junge, bevor sie durch die geheime Tür verschwanden. »Morgen vielleicht…«
Als sie verschwunden waren, sank Thonensen müde auf sein Lager. Er spürte, er war über das Alter längst hinaus, in dem man sich Nächte um die Ohren schlug.
Seine schläfrigen Gedanken kreisten um die beiden wundersamen Kinder und um sein Auge aus Stein, und er schlief bereits, als kurze Zeit später hastige, polternde Schritte den Turm hoch kamen.
Hände rüttelten an ihm und zerrten ihn hoch und versuchten, die Schlaftrunkenheit aus ihm zu schütteln.
Schließlich starrte er in Tauronds und Duzellas aufgeregten Gesichter.
»Oh, Master Thonensen, rasch, wach auf… du mußt mit uns kommen…! Sie töten Merryone! Sie wollen sie opfern…!«
»Merryone?«
Sie liefen bereits voran, und er hatte Mühe, ihnen zu folgen und gleichzeitig wach zu werden. Er sah nicht viel. Es war noch immer stockdunkle Nacht, und der Junge oder das Mädchen, so genau hatte er das nicht zu unterscheiden vermocht, eilte bereits mit seiner Lampe voran.
So stolperte er hinterher, weil er das Gefühl hatte, daß es in der Tat schrecklich wichtig war, was sie ihm zeigen wollten, und weil er ihnen zeigen wollte, daß sie sich auf ihren Freund verlassen konnten.
In den dunklen Gängen nahmen sie ihn wieder an der Hand. Der Weg war nicht weit. Thonensen hatte aber das Gefühl, daß sie eine andere Richtung einschlugen, als er ursprünglich genommen hatte. Dann standen sie vor einer dieser schachtähnlichen Öffnungen und sahen hinab in einen Raum, der von Fackeln erhellt war. Da war aber auch jene fahle Helligkeit, die Thonensen aus Gianton nur zu gut kannte.
Er hielt unwillkürlich den Atem an, als er sich so unvermittelt der Finsternis gegenüber sah. Ein halbes Dutzend Priester standen unten um einen steinernen Altar, auf den ein Götzenbild hinabblickte, eine Statue Quatoruums vermutlich. Auf dem Altar lag ein braunhaariges Mädchen. Sie mochte zwei Dutzend Sommer alt sein. Sie trug ein rotes Kleid. Ihre Hände waren auf den Rücken gebunden, aber es hätte dieser Fesseln nicht bedurft, denn sie war starr vor Angst, ihre Augen weit aufgerissen und auf die Statue gerichtet. Ein Priester hielt sie fest.
»Das ist Merryone«, flüsterte Duzella hastig. »Sie ist unser Mädchen… und unsere Freundin… sie wollen sie töten…?«
»Wir kamen hier vorbei, weil die Priester hier manchmal die Kraft beschwören, die du für deinen Zauber brauchst«, sagte der Junge, »aber wir haben noch nie gesehen, daß sie solch ein Opfer bringen. Vater könnte ihnen Einhalt gebieten, aber er will die Priester nicht gegen sich aufbringen. Außerdem bedeutet ihm Merryone nichts… Kannst du helfen?«
»Ich weiß es nicht. Aber ich werde es versuchen. Gibt es einen Weg hinab?«
Die beiden nickten eifrig und zogen ihn mit sich. Es ging einen schmalen Gang nach unten, in dem die Kinder kaum folgen konnten. Er endete an einer Steinwand, in der Vertiefungen für die Finger zu erkennen waren. Er preßte seine Finger dagegen und schob. Aber erst durch Ziehen öffnete sich die Tür mit leisem Knirschen, und das Quietschen von Kettengliedern war leise zu hören, was verriet, daß der Mechanismus lange nicht mehr benutzt worden war.
Voraus war der Raum leer und dunkel. In einiger Entfernung war ein schwacher Lichtschimmer erkennbar.
Die Kinder zögerten. »Wir müssen hierbleiben«, sagte der Junge.
»Wir werden Vater wecken… für alle Fälle«, erklärte das Mädchen.
Damit fiel die Tür hinter ihm zu. Er stand einen Augenblick lang unentschlossen. Er mußte wahnsinnig sein, sich auf so etwas einzulassen – in einem Haus, in dem man bereits mit Mißtrauen auf ihn blickte. Aber diese Kinder faszinierten ihn, und er war sicher, daß er einem großen Geheimnis auf der Spur war. Zum anderen war es der rechte Augenblick, herauszufinden, wie sehr ihn Parthan in seiner Gewalt hatte. Er fühlte sich frei. Aber war er es wirklich? Oder lauerte etwas in ihm Tag und Nacht und spionierte durch sein steinernes Auge?
Und dann war da das junge Mädchen in dem roten Kleid, das nicht auf dem Altar enden sollte. Kein Leben sollte mehr auf einem Altar der Finsternis enden!
Er hörte die beschwörende Litanei undeutlich vor sich. Das Licht wurde heller. Er wappnete sich, legte sich die Worte zurecht, die er sagen wollte.
Hände griffen plötzlich aus einer Tür, verschlossen ihm den Mund und zerrten ihn in einen dunklen Raum.
»Wen habt ihr?« fragte eine weibliche
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