Das Grab ist erst der Anfang: 12. Fall mit Tempe Brennan
Wir bearbeiten ihn weiter. Ist nur jetzt schwerer, weil er sich ein Sprachrohr engagiert hat.«
Ich erzählte Ryan von dem Bootsunfall achtundfünfzig auf dem Lac Saint-Jean.
»Hast du Jacquème nach der Abstammung seines Schwagers gefragt?«
»Ja, Ma'am.Achille Gouvrard war pur laine.« Pur laine. Reine Wolle. Heißt: ein alteingesessener, weißer Québecois.
»Und Jacquème erinnerte sich noch an was anderes. Gouverard kämpfte vierundvierzig in der Schlacht von Scheldt. Kam mit einem Schrapnell im rechten Oberschenkel nach Hause. Klagte immer über Knochenschmerzen, wenn die Temperatur sank.«
Nach dem Auflegen stand ich auf und klemmte eine Röntgenaufnahme an den Lichtkasten. Im rechten Oberschenkelknochen des Mannes war nicht die geringste Spur von Metall zu erkennen.
Ich studierte die breiten Wangenknochen und die schaufelförmigen Schneidezähne.
Mehr denn je war ich überzeugt, dass der Mann nicht Achille Gouvrard war.
Mein Blick wanderte zu den verfärbten Backenzähnen des jüngeren Kindes.
Wieder brannte die Scham in meiner Brust.
Briel hatte die Tetracyclin-Flecke entdeckt. Ich nicht.
Ich wandte den Blick ab, schaute zum Fenster hinaus. Hinunter zu der Szene, die ich so viele Jahre lang als so beruhigend empfunden hatte. Der Fluss. Die Brücke. Die Autofahrer und Fußgänger in ihrem Alltagsleben.
Eine Motte lag auf dem Fensterbrett, die Beine eingekrümmt, die Flügel mumientrocken. Tot seit diesem Sommer?
Der kleine Kadaver ließ mich an meine nächtlichen Heimsuchungen denken. Die Motten. Die Skelette. Die verbrannten Leichen.
Tief in meiner Hirnschale richtete sich etwas auf. Ich schaute wieder zu den Knochen.
Briel hatte die Verfärbung gefunden.
Das Etwas kräuselte die Oberfläche meines Unterbewusstseins.
Briel hatte den Schusskanal gefunden. Den Schusskanal.
Das Etwas brach in mein Bewusstsein durch.
36
Ich griff zum Hörer, wählte die Nummer des Cook County Medical Examiner und fragte nach Chris Corcoran.
Chris' Apparat klingelte drei Mal, dann schaltete sich der Anrufbeantworter ein.
Ich hinterließ eine Nachricht. Ruf zurück, sobald du kannst.
Es ist wichtig.
Ich schaute auf die Wanduhr. Halb zehn. Wahrscheinlich schnitt er gerade irgendjemandem die Leber heraus.
Der Schusskanal. Natalie Ayers, eine sehr erfahrene Pathologin, hatte ihn übersehen. Marie-Andréa Briel, ein Anfängerin, hatte ihn gefunden. Das war die Fahne, die mein Unterbewusstsein schwenkte.
Der Fall war für Chris Corcoran eine Sensation gewesen. Er hatte ihn mir detailliert beschrieben, als ich in Chicago war. Die Frau, die tot auf ihrem Wohnzimmerboden lag. Die Autopsie ergab keine Hinweise auf Verletzungen. Der Enkel gesteht, dass er seine Oma erschossen hat. Die erneute Autopsie. Chris fand die Verletzung so einzigartig, dass er einen Artikel darüber veröffentlichte.
Okay.
Ich lief in die Bibliothek.
Wo sollte ich anfangen? Chris bearbeitete den Fall, als Laszlo Tots Leiche im Steinbruch auftauchte. Das war im Juli 2005.
Es dauert, bis man einen wissenschaftlichen Artikel geschrieben und die Redaktion zurückerhalten hat und bis man dann in der Schlange der Publikationswilligen dran ist. Ich zog das Journal of Forensie Sciences vom November 2007 heraus und überflog das Autorenverzeichnis.
Nichts. Ich kontrollierte 2006,2005,2008. Nichts. Soviel dazu.
Zurück ins Labor.
Während ich auf Nachricht von Chris in Bezug auf seinen Schusskanal-Fall und von Labrousse in Bezug auf die Ertrinkensopfer aus Sainte-Monique wartete, beschloss ich, ein wenig Internet-Recherche zu betreiben.
Ich gab den Namen Marie-Andréa Briel in Google ein und erhielt eine erstaunliche Anzahl von Links. Zusätzlich zu zahlreichen Online-Artikeln und Blogs hatte Briel als Mitautorin von Artikeln im Journal of Forensie Sciences, im American Journal of Forensie Medicine and Pathology und in einer Anzahl von kanadischen und britischen Zeitschriften fungiert. Alle zusammen mit der ersten gefeuerten studentischen Assistentin. Alle im letzten Jahr.
Briel hatte Dutzende von Interviews sowohl auf Französisch wie auf Englisch gegeben. Sie hatte in Foren mitgearbeitet, die studentische Karrierenetzwerke betreuten. Sie gehörte zum Lehrkörper der Pathologischen Fakultät der Laval University und sie war aufgeführt auf einem Dutzend Sites, die biomedizinische Experten anpriesen. Sie war jeder forensischen Gesellschaft in der freien Welt beigetreten.
Während ich mich von einer Verbindung zur anderen hangelte, wurde mir
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