Das Grab ist erst der Anfang: 12. Fall mit Tempe Brennan
Zehn Mittelfußknochen. Sechsundfünfzig Finger- und Zehenglieder.
Zweihundertundsechs Knochen. Mann, waren wir gut. Während der Exhumierung waren Ryan und Hubert immer wieder gekommen und gegangen. Es zeigte sich, dass der Heizlüfter nur zwei Einstellungen kannte: aus und subtropisch. Obwohl wir die Eingangslasche geöffnet hatten, stieg die Temperatur im Zelt auf ungefähr dreißig Grad. Bannet und ich hatten uns Stück für Stück ausgezogen und zum Schluss nur noch in Jeans und T-Shirt gearbeitet.
Während ich mir nun Notizen machte und Bannet Fotos schoss, standen Ryan und Hubert da und starrten in die Grube. Ihre Gesichter waren gerötet, die Haaransätze schweißfeucht.
Das Opfer, das nur BH und Schlüpfer trug, lag mit dem Gesicht nach unten, die Arme und Beine nach rechts verdreht. Ein Bruch überzog die Schädelrückseite wie ein Spinnennetz.
»Eh, misère.« Hubert hatte den Kraftausdruck schon mindestens zwanzigmal benutzt.
»Irgendwelche Gedanken zur Position der Leiche?«, fragte mich Ryan.
»Nur vorläufige.« Ryan nickte.
»Ich vermute, sie wurde von hinten erschlagen. Dann fiel sie entweder in die Grube oder wurde hineingestoßen.«
»Womit erschlagen?« Angespannt.
»Nach dem Bruchverlauf zu urteilen, würde ich sagen, etwas Flaches mit einem erhöhten Wulst in der Mitte.«
»Sie?« Hubert hatte meinen Hinweis auf das Geschlecht mitbekommen.
»Ja.«
»Wegen der Unterwäsche?«
»Aufgrund von Schädel- und Beckenmerkmalen.«
»Der Rest ihrer Kleidung ist einfach verrottet?«
»Das bezweifle ich. Zugegeben, die Unterwäsche ist Polyester, und Synthetikstoffe überdauern natürliche Fasern wie Baumwolle oder Leinen, aber dann hätte ich Reißverschlüsse, Knöpfe, Druckknöpfe oder sonst irgendwas gefunden. Ich glaube, sie trug sonst nichts.«
»Und keine Schuhe oder Socken«, stellte Ryan fest.
»Nein.«
»Alter?«, fragte Hubert.
Ich kauerte mich hin, nahm den Schädel in die Hand und drehte ihn. Nur acht gelbliche Zähne waren vorhanden, die Zahnhöcker waren stark abgenutzt. Die restlichen Zahnhöhlen waren mit Knochenmaterial verfüllt und geglättet.
Die Schädelnähte waren verschmolzen. Beide Kiefergelenke und die Gelenkköpfe des Hinterhauptbeins waren arthritisch verformt.
»Alt«, sagte ich und sonst nichts, weil ich meiner Stimme nicht mehr traute.
»Das muss Villejoin sein. Wie viele Omas verschwinden schon hier in der Gegend?«
Ich stellte mir die grausige Szene vor. Eine entsetzte alte Frau, die man zwingt, sich auszuziehen und dem Tod am Rand des eigenen Grabes ins Auge zu sehen.
Hatte sie um ihr Leben gefleht? Hatte sie die Augen geschlossen, als sie erkannte, dass es keine Gnade geben würde? Dem Wind in den Bäumen gelauscht? Vogelgesang? Hatte sie das Geräusch der Waffe gehört, als die auf ihren Schädel zusauste?
Plötzlich musste ich raus aus diesem Zelt.
13
Zurück in der Stadt, aßen Ryan und ich einen schnellen Lunch in einem La Belle Province. Ich hatte nur wenig Appetit. Feuchte Wischtücher und Desinfektionsmittel waren nicht gerade der Hygiene letzter Schluss gewesen. Ich wollte einfach nur duschen und Haarewaschen und mir den restlichen Dreck aus den Nägeln schrubben. Aber Ryan war resolut. Oft zeigte er eine mütterliche Ader und bestand darauf, dass ich etwas aß, wenn ich absolut keine Lust darauf hatte.
Ryan bestellte poutine, eine Quebecer Spezialität, die mir ewig ein Rätsel bleiben wird. Man nehme Fritten, bröckele etwas Weißkäse darüber und bedecke das Ganze mit geschmackloser, brauner Soße. Wer's mag.
Ich nahm Erbsensuppe und einen Salat.
Vom Restaurant fuhren wir direkt zum Édifice Wilfrid-Derome im Hochelaga-Maisonneuve-Distrikt am östlichen Rand von centre-ville. Das Laboratoire des sciences judiciaires et de médicine légale belegt die beiden obersten Stockwerke des T-formigen Gebäudes, das Bureau du coroner die elfte Etage, und die Leichenhalle befindet sich im Keller. Der Rest gehört der SQ.
Ryan fuhr mit einem ungesicherten Aufzug in den Vierten. Ich stieg in einen mit Zugangsbeschränkung, der nur das LSJML, das Büro des Coroners und die Leichenhalle anfährt.
An Wochentagen wimmelt es in den Laboren, Büros und Korridoren von weiß bemäntelten Wissenschaftlern und Technikern. An diesem Nachmittag war es hier still wie in einem Grab. Ein Hoch auf die Samstage.
Ich zog meinen Zugangsausweis zum vierten Mal seit Betreten des Gebäudes durch einen Leseschlitz, trat durch die Glastür, die den
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