Das Grab ist erst der Anfang: 12. Fall mit Tempe Brennan
war ich wieder im Keller. Als ich den kleinen Korridor entlangging, bemerkte ich Briel durch das kleine Fenster in der Tür zum großen Autopsiesaal. Sie redete mit Joe Bonnet, während sie das Gehirn von einem der Baie-Comeau-Opfer aus dem Schädel holte.
Ich blieb kurz stehen und fragte mich, wie die beiden Neuen miteinander auskamen. Joe war reizbar und schnell beleidigt. Briel war so freundlich wie eine Statue im Park.
Briel sagte etwas. Joe hörte zu, seine Haarstacheln glänzten im Neonlicht.
Briel berührte Joes Hand. Er lächelte. Lachte sogar. Ich ging weiter zu salle 4.
Ich nahm den Umschlag, den Morin mir vom Bureau du coroner mitgebracht hatte, und breitete den Inhalt auf dem Schreibtisch im Vorraum aus.
Mein Pessimismus war berechtigt gewesen. Es gab nur wenig auszubreiten.
Die Einträge reichten nur zurück bis 1987. Da war keine böse Absicht dahinter. In medizinischen Praxen herrscht oft Raumnot, und Unterlagen werden vernichtet, sobald es rechtlich zulässig ist.
In den letzten beiden Jahrzehnten war Christelle Villejoin zu einem Allgemeinarzt namens Sylvain Rayner gegangen. Selten. 1989 hatte man bei ihr eine Gürtelrose festgestellt. 1994 war es eine leichte Bronchitis.
Die jüngsten Einträge stammten aus dem Jahr 1997.
Am 24.April hatte Christelle über Verstopfung geklagt. Rayner verschrieb ihr ein Abführmittel. Am 26. April war das Problem dann Durchfall.
Gut gemacht, Doc.
Christelle hatte keine Vorgeschichte einer knochenverändernden Krankheit. Man hatte ihr keine Stents, Schrauben, Stifte oder künstlichen Gelenke eingepflanzt. Sie hatte sich nie etwas gebrochen. Sie hatte sich keiner irgendwie gearteten Operation unterziehen müssen.
Keine Röntgenaufnahmen. Kein Zahnstatus.
Christelles Krankenblatt war für mich völlig nutzlos.
Aber die Telefonnummer von Rayners Praxis war angegeben.
Als ich anrief, sagte mir eine Automatenstimme, ich solle mich dünne machen. Meine Wortwahl.
Aus einem Gefühl heraus fuhr ich wieder in den zwölften Stock und versuchte es auf meinem Laptop mit Google.
Sylvain Alexandre Rayner hatte 1952 an der McGill in Medizin promoviert und seine Praxis 1998 aufgegeben. Noch ein wenig mehr Suchen, und ich hatte eine Privatnummer und eine Wegbeschreibung zu Rayners Wohnhaus in Côte Saint-Luc.
Was für ein Segen ist doch das Internet.
Mein Anruf blieb unbeantwortet. Ich hinterließ eine Nachricht und fuhr wieder nach unten.
Ich hatte kaum salle 4 wieder betreten, als das Telefon im Vorraum klingelte.
»Dr. Temperance Brennan, s'il vous plâit«, sagte eine Männerstimme.
»Darf ich fragen, wer Sie sind?«
»Sylvain Rayner.«
»Der Sylvain Rayner, der Christelle Villejoin behandelte?« Ich redete laut und langsam, eine wohlmeinende Reaktion, die auf einer häufigen und oft falschen Annahme basiert. Rayner ist alt, deshalb hört er schlecht und ist vielleicht auch schon ein bisschen begriffsstutzig.
»Oui.«
»Dr. Sylvain Rayner?« Ich wiederholte den Namen noch ein bisschen lauter und betonte den Titel.
»Ich kann Sie sehr gut verstehen, Miss.« Der Mann hatte ins Englische gewechselt. »Ja. Hier ist Sylvain Rayner. Ich erwidere Ihren Anruf.«
Offensichtlich hatte der gute Doktor ausgezeichnete Ohren.
Oder ein gutes Hörgerät. Er hatte sogar meinen anglofonen Akzent mitbekommen.
»Bitte entschuldigen Sie, Sir. An diesem Apparat schwankt hin und wieder die Lautstärke«, log ich.
»Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Wie ich bereits in meiner Nachricht gesagt habe, mein Name ist Temperance Brennan. Ich bin die forensische Anthropologin des Coroners in Montreal. Ich habe einige Fragen bezüglich einer früheren Patientin.«
Ich erwartete eine Abfuhr auf Grund ärztlicher Schweigepflicht. Doch ich bekam etwas ganz anderes.
»Sie haben Christelle Villejoin gefunden«, sagte Rayner.
»Vielleicht.« Vorsichtig. »Es wurden Überreste in die Leichenhalle geliefert. Ich konnte feststellen, dass die Knochen die einer älteren, weißen Dame sind, aber ich habe nichts gefunden, was eine eindeutige Identifikation ermöglicht hätte. Die medizinischen Unterlagen, die ich habe, sind ziemlich dürftig.«
»Das überrascht mich nicht. Die Villejoin-Schwestern waren mit erstaunlichen Genen gesegnet. Ich sah sie beide von Mitte der Siebziger bis zu meinem Ruhestand achtundneunzig. Sie waren so gut wie nie krank. Na ja, hin und wieder mal Bauchweh. Eine Erkältung. Vielleicht ein Hautausschlag. Anne-Isabelle und Christelle könnten gut die gesündesten
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