Das Grab ist erst der Anfang: 12. Fall mit Tempe Brennan
fünften Fingers.
Ich kontrollierte alles noch einmal. Nichts.
Fingerglieder sind klein und gehen bei Leichen, die im Freien deponiert wurden, oft verloren. Waren die fehlenden Knochen von Nagern davongeschleppt worden? Waldratten sind dafür bekannt, dass sie Leichenteile in ihren Nestern sammeln. Waren sie von sickerndem Grundwasser fortgespült worden?
Oder hatte ich einen Fehler gemacht?
Das Skelett war im Lauf der Zeit so dunkel geworden wie das es umgebende Erdreich. Hatte ich die Fingerglieder in der Grube einfach übersehen? Oder im Sieb? Ich hatte bewusst fünfzehn Zentimeter tiefer gegraben, als das Skelett gelegen hatte. Hatten wachsende Wurzeln oder Insekten die Winzlinge noch tiefer getragen?
Oder steckte eine böse Absicht dahinter? War Christelles kleiner Finger abgetrennt worden, bevor sie in die Erde gelegt wurde? Falls ja, was war dann mit der Spitze ihres Mittelfingers passiert?
Und, wichtiger noch, warum? Deutete das Entfernen des kleinen Fingers auf einen Mörder hin, der sein Opfer kannte, ein Killer, der vor allem die forensische Bedeutung eines verkrümmten Fingers kannte?
O Gott,das konnte doch alles nicht wahr sein. Die Kamptodaktylie war alles, was ich hatte. Hubert würde bald anrufen.
Falsch.
Ich hörte Schritte und drehte mich um.
Huberts Bauch schwabbelte durch die Tür. Der Rest des Coroners kam dicht dahinter.
»Dr. Brennan.« Ein Grinsen von Ohr zu Ohr.
»Was haben Sie für mich?«
»Genau genommen bin ich noch nicht ganz fertig.«
Hubert schob die Handmanschette zurück und schaute auf seine Uhr »Ich habe keine Röntgenaufnahmen, keinen Zahnstatus oder irgendeine adäquate medizinische Vorgeschichte. Und mit der anderen alten Dame, die jetzt ebenfalls verschwunden ist -« Hubert runzelte die Stirn. »Was für eine andere alte Dame?« Ich fasste Ryans Bericht über Marilyn Keiser kurz zusammen.
»Eh, misère.«
»Aber es kann sein, dass ich was gefunden habe.«
Hubert seufzte durch die Nase. Es pfiff. »Bis wann?«
»Bald.«
»Ich bin in meinem Büro.«
Als Hubert gegangen war, suchte ich den Autopsiesaal noch einmal ab. Die Fingerglieder waren definitiv nicht da.
Ich verschränkte die Arme und stand einen Augenblick lang nur da.
Formblatt für die Skelettinventarisierung? Ich schaute es mir an.
Vor Ort hatte ich die Sicherstellung von sechsundfünfzig Fingergliedern notiert. Darüber hinaus waren die Informationen nutzlos. Nachdem ich Handwurzel- und Mittelhandknochen, Fußwurzel- und Mittelfußknochen identifiziert hatte, hatte ich die Fingerknochen nur durchgezählt und die Hände und Füße dann in Tüten gesteckt. Hatte ich mich verzählt? Zweige mit mittleren Fingergliedern verwechselt? Kiesel mit Endgliedern?
Joe?
Es war ein Samstag gewesen. Ich hatte alleine gearbeitet. Die Knochen erforderten keine Säuberung, das Risiko einer unbeabsichtigten Veränderung bestand also nicht. Abgesehen von den Überblicksfotos, die den Zustand bei der Ankunft dokumentierten, hatte ich beschlossen, mit dem Fotografieren zu warten, bis das Skelett komplett zusammengesetzt war.
Fundortfotos?
Es war zwar nicht sehr wahrscheinlich, aber es konnte sein, dass der rechte kleine Finger in Großaufnahmen zu sehen war.
Ich stieg die Treppe zum Erdgeschoss hoch, ging in die Eingangshalle und fuhr mit einem allgemein zugänglichen Aufzug in den zweiten Stock. Ein Mann namens Pellerin grüßte mich im Service de l'identité judiciaire.
Ich fragte nach den Tatortfotos der Oka-Bergung. Pellerin bat mich zu warten und verschwand im hinteren Teil der Abteilung. Kurz darauf kam er mit einem dicken, braunen Umschlag zurück. Ich dankte ihm und ging wieder nach unten.
Ich zog ein Spiralalbum aus dem Umschlag und blätterte die Farbabzüge durch.
Die ersten zeigten den üblichen Geländeüberblick, Zugangswege und eine mit gelbem Band abgesperrte Fläche aus verschiedenen Blickwinkeln. Nur das Zelt war atypisch.
Diese Fotos blätterte ich schnell durch. Ich interessierte mich für Knochen.
Es gab mehrere Aufnahmen des Skeletts in der Grube, aufgenommen aus einer Entfernung von knapp zwei Metern. Weil das Opfer seitlich verdreht dalag, war die rechte Hand nur schwer zu erkennen.
Ich versuchte es mit einem Vergrößerungsglas. Das brachte nicht viel.
Ich blätterte weiter in den Abzügen.
Es gab ausgezeichnete Aufnahmen von Schädel, Brustkorb, Becken und allen vier Extremitäten. Im Grab. Neben dem Grab auf einer Plastikplane.
Zweiundsechzig Fotos. Keine einzige Nahaufnahme
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