Das Grab ist erst der Anfang: 12. Fall mit Tempe Brennan
Fleisch oder Leichenhallen kann der Typ nicht umgehen.
»Pinskers Identifikation der Leiche ist eine Formalität.« Claudel legte den Kopf schief. Die Hakennase warf einen Schatten über eine Wange. »Es ist Keiser. Ich muss zurück auf die Straße.« Ich sah Claudels makellos gebügelten Hintern durch die Tür verschwinden.
Eine Stunde später tauchte Ryan auf.
»Das Zeug vom Lac Saint-Jean?« Mit Blick auf die vor mir ausgebreiteten Knochen.
Ich nickte. »Sehen alt aus.«
»Sind sie.«
»Wie alt?«
»Man kann mit Bestimmtheit sagen, dass die Leute dieses Weihnachten keine Strümpfe an den Kamin gehängt haben.«
»Vierzig Jahre?«
Ich schaute ihn nur an.
»Siebenundsechzig verschwand eine Cessna 310 auf dem Flug von Chicoutimi nach Quebec City. Die Familie Gouvrard. Eltern, zwei Kinder. Die letzte Sichtung war in der Nähe des Lac Saint-Jean, man dachte also, dass die Maschine in den See stürzte. Aber das Wrack wurde nie gefunden.«
Ryan gab mir ein Blatt. Ich schaute kurz darauf. Aufgezählt waren Namen und Alter von vier Individuen.
Achille Gouvrard, 48 Vivienne Gouvrard, 42 Serge Gouvrard, 12 Valentin Gouvrard, 8.
»Irgendeine Chance, dass es nach so vielen Jahren noch antemortale Unterlagen gibt?«
»Die Akte ist unterwegs.«
»Du bist gut, Detective.«
»Ja, schätze, das bin ich.«
»Bin dir was schuldig.«
»Ich werde es schon einfordern.« Übertriebenes Augenbrauenspiel.
In meinen unteren Bereichen rührte sich etwas. Ich ignorierte es.
»Warum hat es bei dir beim Lac Saint-Jean gleich geklingelt?«
»Gouvrards Schwester war verheiratet mit einem Kollegen, Quentin Jacguème. Jahrelang ließ Jacguème am Jahrestag des Absturzes eine Anfrage herumgehen. Falls sich irgendwas ergab, wollte er darüber Bescheid wissen.«
»Eine solche Hartnäckigkeit muss man bewundern.«
»Hartnäckigkeit. Gutes Wort. Die Anfragen hörten auf, kurz nachdem ich an Bord kam, als Jacguème in Rente ging. Da er zu SQ gehörte, war er leicht zu finden.«
»Daher der schnelle Zugriff auf eine noch immer existierende, vierzig Jahre alte Akte.«
»Genau.«
» Traurig, die Geschichte mit Keiser«, sagte ich.
»Ja«, sagte Ryan. »Aber abzusehen.«
Als Ryan gegangen war, beendete ich meine Untersuchung.
Obwohl jedes Skelett fragmentarisch war und die meisten Knochen verwittert und beschädigt waren, gab es genügend Daten, um festzustellen, dass das Familienprofil passte.
Keins zeigte irgendwelche offensichtlichen Gesundheits- oder Zahnprobleme.
Aber was war mit Daddys Wangenknochen und den schaufelförmigen Zähnen? Wahrscheinlich eine normale Variation.
Dennoch wollte ich Ryan Jacquème nach der Abstammung seines Schwagers fragen lassen.
Um zwanzig nach vier rief ich Hubert an, um ihm von Ryans Erkenntnissen zu berichten. »Neunzehnsiebenundsechzig.« Ich hörte Leder ächzen, als Hubert sich in seinem Sessel bewegte. »Dr. Briels Beteiligung wird also irrelevant. Übrigens, wie hat sie es gemacht?«
»Vier minus.«
Hubert machte eins seiner nicht interpretierbaren Geräusche. »Mit dem, was ich habe, ist eine Identifikation ausgeschlossen«, sagte ich. »Antemortale Unterlagen sind unterwegs, aber ich bin nicht sehr optimistisch. Ich habe nur sehr wenige Zähne. Vom jüngeren Kind überhaupt keine.«
»DNS?«
»Vielleicht mitochondrische, aber das ist heikel. Die Knochenqualität ist sehr schlecht. Und wie stehen die Chancen, dass man Verwandte mütterlicherseits aufspürt?«
»Tàbernac. Wie viele Familien können in einem See liegen?« Ich dachte an Huberts Worte an Christelle Villejoins Grab.
Wie viele Omas verschwinden schon hier in der Gegend? Ich sagte nichts.
»Außerdem ist der Absturz eine uralte Geschichte.«
»Uralte Geschichte kann ganz übel auf die Gegenwart durchschlagen. Falls es die Familie Gouvrard ist, gibt es vielleicht noch juristische Probleme. Erbe. Versicherung. Haftung.«
»Madame Keiser liegt unten.« Themenwechsel. Huberts gewohntes Vorgehen, wenn er sich unbehaglich fühlte. »Ayers hat sich bereit erklärt, die Autopsie gleich morgen früh zu machen.« Ich wartete.
»Vielleicht war Keiser desorientiert und hat sich selber angezündet.«
»Es gibt keine Vorgeschichte von Demenz.«
»Shit happens.«
Ich verbrachte noch einmal zwei Stunden mit den Knochen vom Lac Saint-Jean, dokumentierte alle Details, die vielleicht wichtig werden konnten, wenn die antemortalen Unterlagen eintrafen. Ich vermutete, dass Hubert recht hatte. Mom, Dad und zwei Kinder. Wie hoch war
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