Das Grab ist erst der Anfang: 12. Fall mit Tempe Brennan
Sache. Wollen Sie eigentlich, dass dieses Mädchen im Lager herumstöbert?«
Der schnelle Wechsel brachte mich aus dem Konzept. »Was für ein Mädchen?«
»Irgendeine Tussi wühlt in Ihren alten Fällen.« So viel zu höflicher Beziehungsverbesserung. »Röntgen Sie die Opfer vom Lac Saint-Jean.«
Ich sprang auf und ging über den Korridor in mein Labor. Die »Tussi« hatten den Rücken zur Tür, während sie den
Inhalt eines Kartons untersuchte. Auf dem Etikett stand LSJML-28723.
»Entschuldigen Sie?«
Als das Mädchen herumwirbelte, schnellten unter einem am Hinterkopf gebundenen Dreieckstuch zwei margarinehelle Zöpfe herum. Obwohl mindestens eins achtzig groß, wog die junge Frau kaum mehr als ein Schulmädchen.
»Sie haben mich erschreckt.« Hand an der Brust.
Ich verschränkte die Arme. Dachte kurz daran, mit der Schuhspitze auf den Boden zu klopfen, tat es aber nicht. »Und Sie sind?«
»Solange Duclos.«
Der Name sagte mir nichts. Mein Gesicht verriet es offensichtlich.
»Dr. Briels Forschungsassistentin.« Fast geflüstert.
Die Studentin von der Université de Montréal. Ich hatte das völlig vergessen.
»Wer hat Sie hier reingelassen?«
»Dr. Briel hat mir einen Schlüssel gegeben.« Sie hielt ihn in die Höhe.
Ich streckte ihr die hohle Hand entgegen. Duclos legte den Schlüssel hinein.
»Dr. Briel meinte, ich sollte mich mit Zähnen vertraut machen, indem ich alte Fälle durchgehe.« Duclos trug den rötesten Lippenstift, den ich je gesehen hatte. Hieß wahrscheinlich Passionate Poppy oder Chili Pepper Red.
Mit einem Winken bedeutete ich ihr, sie solle das Lager verlassen. Sie schnappte sich ein Spiralnotizbuch und eilte an mir vorbei, das Buch fest an ihre fast nicht vorhandenen Brüste gedrückt. Nachdem ich die Tür verschlossen hatte, ging ich zu ihr.
Lass es nicht an der Kleinen aus.
»Haben Sie sich bei Dr. Morin angemeldet?«
Duclos nickte, den blutroten Mund seitlich verzogen. »Neben diesem Vertrautmachen, hat Dr. Briel Ihnen noch andere Anweisungen gegeben?« Duclos schüttelte den Kopf.
Klasse. Briel hatte eine Novizin auf unserem Stockwerk, war aber selbst nicht einmal im Gebäude.
Duclos hielt ein zerfleddertes Exemplar der Human Osteology von Bass in die Höhe.
»Sie hat mir das da gegeben. Das Kapitel über Zähne ist wirklich gut. Ich kenne natürlich die Zähne, Incisivi, Canini, Prämolares und Molares, aber bei den Details hapert's ein wenig.« Nicht stammelnd, aber fast. »Ich bin mir noch unsicher bei mandibular und maxillar, links und rechts.«
»Setzen Sie sich.« Ich deutete auf die einzige Fläche im Zimmer, die nicht mit Knochen bedeckt war. »Hier.«
Duclos schob einen Stuhl zu der Stelle, die ich ihr gezeigt hatte. Während sie sich setzte, ging ich wieder in den Lagerraum. Mit einem kleinen, runden Schlüssel an meinem persönlichen Bund schloss ich einen Metallschrank auf und holte eine Plastikschale heraus.
Duclos schaute mich mit Frisbee-Augen an.
»Üben Sie mit denen da. Unterscheiden Sie nach Kategorien, dann nach Seiten, dann oben und unten.«
Die Schale knallte auf die Arbeitsfläche.
Nachdem ich mich mit Kaffee versorgt hatte, versuchte ich es noch einmal bei Schechter.
Nichts.
Danach ging ich in Briels Büro. Auf ihrem Schreibtisch lag ein grauer Umschlag mit dem Absender SQ Chicoutimi.
Ich eilte in mein Büro zurück. Motiviert.
Aber nicht für lange.
Die Gouvrard-Unterlagen ließen die Villejoin-Akten vergleichsweise üppig aussehen. Es gab keine einzige Röntgenaufnahme. Ärztliche und zahnärztliche Daten waren nicht der Rede wert. Die getippten Berichte waren ausgebleicht und verschmiert, wahrscheinlich Kohlepapierdurchschläge. Handschriftliche Notizen waren kaum zu entziffern.
Nach dreieinhalb Stunden Starren und Vergrößern und Übersetzen aus umgangssprachlichem Französisch wusste ich kaum mehr als am Anfang.
Achille, der Vater, hatte an erhöhtem Blutdruck und Ekzemen gelitten und dagegen auch Medikamente erhalten. Er war eins dreiundsiebzig groß gewesen. Nutzlos. Ich hatte keine kompletten Röhrenknochen. Mit siebenunddreißig Jahren hatte er sich bei einem Arbeitsunfall drei Zehen gebrochen. Ich hatte keine Fußknochen.
Das Fehlen von Zahnunterlagen deutete darauf hin, dass Daddy kein Freund regelmäßiger Kontrolluntersuchungen gewesen war.
Vivienne, die Mutter, hatte keine medizinischen Befunde, die ihr Skelett in Mitleidenschaft gezogen hätten. Sie hatte Probleme mit Sodbrennen, Säurerückfluss würde man das
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