Das Grab - Roman
lang genug lebt, wird sich irgendeine ein Herz fassen und ihn umbringen. Als ich noch jünger war, musste ich ihn mir einige Male mit Ohrfeigen von der Pelle halten. Natürlich hab ich ihn nicht umgebracht, aber es hätte passieren können, wenn ich eine Waffe griffbereit gehabt hätte. Wenn sie diese Krankenschwester je erwischen, gibt es in der Stadt wohl eine Menge Leute, die ihr einen Orden an die Brust heften würden. Aber sie würden sich alle hinter meiner Wenigkeit in die Schlange stellen müssen.«
»Na ja«, sagte Vicki, »ich mochte Pollock auch nicht. Aber ich bezweifle, dass er es verdient hatte, umgebracht zu werden.«
»Ich glaub schon. Aber es ist trotzdem schockierend, dass in unserer schönen Stadt ein solches Blutbad angerichtet wurde. Wollen Sie gleich zu Charlie rein? Er sagte, dass er Sie sofort sprechen will, wenn Sie kommen.«
Vicki fühlte einen Anflug von Besorgnis. »Wissen Sie, worum es geht?«
Thelma schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Aber Jack Randolph ist bei ihm.«
»Wer ist Jack Randolph?«
»Ein Anwalt.«
O Gott. Was geht hier vor sich?
Ihr Herz klopfte, als sie langsam den Korridor hinab auf Charlies Sprechzimmer zuging.
Ein Anwalt. Kunstfehler? Das war unwahrscheinlich. Sie hatte in der letzten Woche niemanden mit einer ernsteren Krankheit behandelt. Komplikationen waren natürlich immer möglich. Aber wenn jemand ein Problem hatte …
Sie klopfte an die Tür von Charlies Sprechzimmer. »Herein«, rief er.
Sie öffnete die Tür. Charlie lächelte sie an. Trotz des Lächelns schien er einen Moment lang irritiert, als würde er sie nicht erkennen.
»Sie wollten mich sprechen?«
Die Verwirrung schien sich zu verflüchtigen. »Vicki? Ja, stimmt. Kennen Sie Jack Randolph?«
»Nein, ich …« Als sie in den Raum trat, erhob sich ein Mann vom Sessel neben Charlies Schreibtisch und lächelte ihr zu.
»Dr. Chandler«, sagte er.
Sie wusste, dass sie ihn anstarrte. Sie wusste, dass sie rot wurde und ihr Mund offen stand.
Der Mann vom Spielplatz. Der sie von der Rutsche aus beobachtet hatte. Der am nächsten Tag wieder dort gewesen war, diesmal auf einer Schaukel, als würde er auf sie warten. Der sogar in einem ihrer Alpträume aufgetaucht war, nur um von Dexter Pollock von der Rutsche geschossen zu werden. Oder war es Melvin gewesen? Sie konnte sich nicht mehr erinnern.
»Hallo«, bekam sie mit Mühe hervor.
»Oh«, sagte Charlie. »Sie kennen sich?«
»Flüchtig«, sagte Jack.
»Das ist schön. Jack ist Anwalt, Vicki.«
»Gibt es irgendein Problem?«
»Nein, nein«, sagte Charlie. »Setzen Sie sich.«
Sie setzte sich auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. Kein Problem, hatte er gesagt. Sie war erleichtert, doch zugleich auch verwirrt und nervös. Und seltsam angespannt aufgrund der Anwesenheit des Mannes vom Spielplatz. Sie beobachtete, wie er sich wieder auf den anderen Stuhl setzte.
Was macht der hier?, überlegte sie. Es muss irgendwas mit mir zu tun haben. Woher weiß er, wo ich arbeite?
»Also, Vicki«, begann Charlie, »ich habe über Ihre Position in der Praxis nachgedacht. Ich finde, Sie sind mir eine äußerst wertvolle Hilfe, und es würde mich sehr beruhigen, wenn Sie hier in der Stadt blieben und vielleicht sogar die Praxis übernähmen, wenn ich nicht mehr bin.«
Wenn ich nicht mehr bin.
Er sah aus wie immer: das weiße Haar sorgfältig gescheitelt, gerötetes Gesicht, strahlend blaue Augen. Doch Vicki erinnerte sich, dass er ihr irgendwie verwirrt vorgekommen war, als sie die Tür geöffnet hatte. »Sind Sie okay, Charlie?«, fragte sie. »Stimmt was nicht?«
»Nein, nein.« Er wedelte mit einer Hand, als würde er den Gedanken verscheuchen, und kratzte sich am Bauch. »Ich nehme an, dass ich noch ein paar Jahre vor mir habe. Aber ich werde nicht jünger, Vicki. Ich habe mein ganzes Leben damit verbracht, mich um die Leute in dieser Stadt zu kümmern, und es wäre mir lieb, dass Sie bleiben und die Praxis übernehmen, wenn ich nicht mehr bin.«
Er hatte es schon wieder gesagt.
»Ich hab nicht vor, wegzugehen«, erwiderte Vicki.
»Das ist schön zu hören. Deshalb möchte ich dafür sorgen, dass es sich für Sie lohnt, zu bleiben.« Er kratzte sich erneut. »Ich biete Ihnen an, mein gleichberechtigter Partner in der Praxis zu werden.«
»O mein Gott.«
»Ist das ein Ja?«, erkundigte sich Charlie.
»Nun … ja. Natürlich. Ich bin nur überwältigt …«
»Wir werden alles fifty-fifty teilen.«
»O Gott, ich …«
»Jack wird noch heute
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