Das Grauen lauert in der Tiefe
sich auf und die Glaskuppel über ihnen gab wieder den Blick in den Ozean frei. »Woher weißt du denn, dass wir in dieses Jammerviertel fahren?«, wandte er sich dann an Tom.
Statt einer Antwort drehte sein Freund nur den Kopf von links nach rechts und rutschte tiefer in die Laken, so als wollte er sich darunter verstecken. Auch Max spähte nun angestrengt ins Halbdunkel hinaus. Dieser Teil der Unterwasserstadt war wesentlich schlechter beleuchtet als die Gegend, in der die Villa von Professor Hardenberg stand. Außerdem hatten sich zu beiden Seiten der Straße dichte Nebelwände gebildet, die fast so undurchdringlich waren wie der künstliche Regenguss. Trotzdem erkannte Max, dass die Häuser rechts und links von ihnen baufällig und heruntergekommen wirkten. Statt Fenstern und Türen klafften schwarze Löcher in den Wänden, und Max hatte das Gefühl, dass sich dunkle Gestalten dahinter duckten und sie beobachteten. Eine Weile raste das Automobil mit seinen blinden Passagieren noch mit unverminderter Geschwindigkeit die Straße entlang, aber plötzlich wurde es langsamer.
Die Kinder hoben vorsichtig die Köpfe.
»Was machen wir denn jetzt?«, raunte Max seiner Schwester und Tom zu.
»Vielleicht entdecken sie uns nicht«, sagte Tom, sah aber nicht besonders zuversichtlich aus.
»Wer sind denn sie überhaupt?«, wollte Mafalda wissen. »Müssen ja komische Leute sein, die mit einer Tonne gewachster Laken durch die Gegend fahren.«
»Allerdings«, sagte Max. »Und was hatten sie hinter Professor Hardenbergs Villa zu suchen?«, fügte er hinzu. »Wir sind wohl kaum zufällig genau in dieses Lasten-Automobil geplumpst.«
»Unsere Lehrer in der Schule sagen, dass in den Regenzeiten Jammerer durch die Straßen ziehen, um Kinder zu stehlen.« Tom warf bange Blicke in die nebelverhangene Gasse.
» Um Kinder zu stehlen? «, echoten Max und Mafalda gleichzeitig.
»Ja.« Tom nickte. »Sie sammeln herumlaufende Kinder ein und verprügeln sie nur so zum Spaß und dann bringen sie sie um, aber vorher machen sie noch …«
»Wir halten an«, unterbrach Max seinen Freund und legte den Zeigefinger an die Lippen. »Wenn wir direkt loslaufen, können wir vielleicht entkommen.«
Tom und Mafalda blieb nicht einmal die Zeit, um zu nicken, denn im selben Moment drang ein harter, metallischer Ton zu ihnen herauf, gefolgt von einem Ächzen und Knirschen. Der Lakenberg erzitterte, und Max sah, wie die hintere Wand des Automobils heruntergeklappt wurde. Dann blickte er in das Gesicht eines Monsters. Vielleicht war es irgendwann einmal ein Mensch gewesen, aber das musste lange her sein. Die Haut des Ungeheuers sah aus, als ob sie vertrocknet und anschließend aufgeplatzt und auseinandergerissen wäre.
»Gottverdammter Mist«, fluchte das gruselige Wesen. »Du brauchst mich nicht so anzustarren, Bürschchen. Ich weiß, dass ich kacke aussehe.« Das Monster verzog den ohnehin schon schiefen Mund zu einem Grinsen. Statt Zähnen hatte es so etwas Ähnliches wie Nägel im Mund.
»Mist und Kacke sagt man nicht«, entgegnete Mafalda. »Das gehört sich nicht.«
Das Monster begann, schallend zu lachen. »Ich werd verrückt, was für eine kleine Kröte«, prustete es zwischen seinen Zähnen hervor. »Bei allen furzenden Teufeln, so eine feine Dame ist mir schon lange nicht mehr begegnet.«
Maxwell wollte gerade das Signal zum Weglaufen geben, als hinter dem Unhold ein Junge auftauchte. Max schätzte ihn nur wenig älter, als er selbst war, und wunderte sich darüber, dass der andere trotzdem schon ziemlich erwachsen aussah. Sein Gesicht war schmal und hatte harte Züge, war aber trotzdem ungewöhnlich hübsch. Seine Augen waren groß und rund und blitzten herausfordernd im Licht der Laterne, die er trug. Mittellange dunkelbraune Haare standen in verfilzten Zöpfen von seinem schmalen Kopf ab und erinnerten Max an die Haartracht der Mayapriester, von denen sein Vater Bilder hatte anfertigen lassen, als er mit seiner Familie zusammen in Südamerika eine verschollene unterirdische Stadt gesucht hatte. Der Anzug des Jungen hatte aber überhaupt nichts Mayahaftes. Er sah eher englisch aus und war aus feinem grünem Cord geschneidert, der allerdings an vielen Stellen eingerissen und neu zusammengenäht worden war.
»Was ist denn los, Beethoven?«, fragte der Junge das Monster. Seine Stimme klang so unerwartet hell, dass Max irritiert blinzelte.
»Schau dir das hier mal an«, erwiderte Beethoven und zeigte auf Max und Mafalda. »Bei allen
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