Das Graveyard Buch
nicht mehr bestürzt, er war außer sich.
»Aber warum?«, fragte Bod.
»Das habe ich dir schon gesagt. Ich brauche ein paar Informationen. Dazu muss ich eine Reise m a chen, und um eine Reise zu machen, muss ich weg von hier. Das haben wir doch alles schon besprochen.«
»Was ist so wichtig, dass du weggehen musst?« Der sechsjährige Bod bot seinen ganzen Verstand auf, um herauszufinden, was Silas dazu gebracht haben kön n te, ihn allein zu lassen – doch es gelang ihm nicht. »Das ist nicht fair.«
Sein Beschützer ließ sich nicht beirren. »Das ist weder fair noch unfair, Nobody Owens. Das ist ei n fach so.«
Bod sah das nicht ein. »Du musst dich um mich kü m mern, das hast du selbst gesagt.«
»Als dein Vormund bin ich verantwortlich für dich, das ist richtig. Aber glücklicherweise bin ich nicht der einzige Mensch auf der Welt, der gewillt ist, diese Ve r antwortung zu übernehmen.«
»Wo gehst du überhaupt hin?«
»Hinaus. Weg. Ich muss gewisse Dinge herausfi n den, die ich hier nicht herausfinden kann.«
Bod schnaubte und ging, Tritte gegen imaginäre Ste i ne verteilend, von dannen. Der nordwestliche Teil des Friedhofes war ziemlich verwildert; die Natu r freunde, die sich um den Friedhof kümmerten, kamen gegen den Wildwuchs einfach nicht mehr an. Dort streifte Bod u m her und weckte eine Schar viktorian i scher Kinder, die alle schon vor ihrem zehnten Lebensjahr verstorben w a ren, und sie spielten bei Mondenschein im efeuumran k ten Urwald Verstecken. Bod tat so, als würde Silas nicht fortgehen, als würde sich nichts ändern, doch als sie mit dem Spielen aufgehört hatten und er zur Kapelle zurüc k kehrte, sah er zwei Dinge, die ihn eines Besseren beleh r ten.
Als Erstes fiel ihm eine Tasche ins Auge. Auf den er s ten Blick sah Bod, dass sie Silas gehörte. Sie war b e stimmt mindestens hundertfünfzig Jahre alt, ein schönes Stück aus schwarzem Leder, mit Messingb e schlägen und einem schwarzen Griff, eine Tasche, wie ein viktorian i scher Arzt oder Bestatter sie benutzt haben mochte und die alle Utensilien enthielt, die möglicherweise gebraucht wurden. Bod hatte Silas’ Tasche noch nie zuvor gesehen, ja er wusste nicht einmal, dass dieser eine Tasche hatte. Aber so eine Tasche konnte nur Silas gehören. Er hätte gern einen Blick hineingeworfen, aber sie war mit einem schw e ren Messingschloss gesichert. Sie war so schwer, dass Bod sie nicht hochheben konnte.
Als Zweites sah er eine Frau, die auf der Bank neben der Kapelle saß.
»Bod«, sagte Silas. »Das ist Miss Lupescu.«
Miss Lupescu war nicht hübsch. Ihr Gesicht war ve r kniffen, ihre Miene missbilligend. Sie hatte graue Haare, obwohl ihr Gesicht eigentlich zu jung war für graue Ha a re. Ihre Schneidezähne standen leicht schief. Sie trug e i nen unförmigen Regenmantel und um den Hals hatte sie eine Männerkrawatte gebu n den.
»Guten Tag, Miss Lupescu«, sagte Bod.
Miss Lupescu antwortete nicht. Sie rümpfte nur die Nase. Dann schaute sie Silas an und sagte: »Das ist also der Junge.« Sie stand auf und ging mit geblähten Nase n flügeln um Bod herum, als ob sie ihn beschnuppern wol l te. Nachdem sie einmal ganz um ihn herumgegangen war, befahl sie: »Du meldest dich bei mir morgens nach dem Aufstehen und abends, bevor du zu Bett gehst. Ich habe mir ein Zimmer in einem Haus da drüben gemi e tet.« Sie zeigte auf ein Dach, das von da aus, wo sie standen, ger a de noch zu e r kennen war. »Ich werde meine Zeit hier auf dem Friedhof verbringen. Ich bin Historikerin, ich fo r sche über alte Gräber. Hast du mich versta n den, Bub? Da ?«
»Ich heiße Bod«, sagte Bod. »Bod, nicht Bub .«
»Abkürzung für Nobody«, sagte sie. »Ein blöder N a me. Also, Bod ist ein Kosename, ein Spitzname. Das g e fällt mir nicht. Ich werde dich jedenfalls ›Bub‹ nennen. Und du nennst mich Miss Lupescu.«
Bod schaute flehentlich zu Silas auf, aber Silas’ Miene zeigte kein Mitgefühl. Er nahm seine Tasche in die Hand und sagte: »Du bist bei Miss Lupescu in g u ten Händen, Bod. Bestimmt werdet ihr gut miteina n der auskommen.«
»Nein!«, widersprach Bod. »Sie ist schauderhaft!«
»Das war ausgesprochen grob von dir«, sagte Silas. »Du solltest dich entschuldigen.«
Bod wollte nicht, aber wie Silas so vor ihm stand mit seiner Reisetasche in der Hand und drauf und dran war, ihn für unbestimmte Zeit zu verlassen, sagte er schlie ß lich doch: »Entschuldigen Sie bitte, Miss Lupescu.«
Zuerst erwiderte sie nichts. Sie
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