Das Graveyard Buch
schon alles, Junge? Sechs Jahre alt und du weißt schon alles.«
»Das habe ich nicht gesagt.«
Miss Lupescu verschränkte die Arme. »Was weißt du über Ghule?«
Bod versuchte, sich zu erinnern, was ihm Silas über Ghule erzählt hatte. »Man soll sich von ihnen fernha l ten«, sagte er.
»Und das ist alles, was du weißt? Da? Warum soll man sich von ihnen fernhalten? Woher kommen sie? Wohin gehen sie? Warum soll man sich nicht in der N ä he einer Ghulpforte aufhalten? Na?«
Bod zuckte mit den Schultern und schüttelte den Kopf. »Nenn mir die verschiedenen Gattungen der Lebew e sen«, sagte sie. »Aber schnell.«
Bod überlegte einen Augenblick. »Die Lebenden«, begann er. »Mhm. Die Toten.« Er stockte. »Die Ka t zen?«, bot er unsicher an.
»Du bist ungebildet, Junge«, sagte Miss Lupescu. »Das ist schlimm. Und du bist auch noch zufrieden damit und das ist noch viel schlimmer. Wiederhole: Es gibt die Lebenden und die Toten, die Tagwesen und die Nach t wesen, die Ghule und die Nebelgänger, die hohen Jäger und die Hunde Gottes. Und schließlich gibt es die Ei n zelgänger.«
»Und was sind Sie?«, fra gte Bod.
»Ich«, sagte sie ernst, »bin Miss Lupescu.«
»Und was ist Silas?«
Sie überlegte kurz. »Er ist ein Einzelgänger.«
Bod stand die Stunde durch. Wenn Silas ihm Unte r richt gab, war das immer kurzweilig. Meist merkte Bod gar nicht, dass ihm etwas beigebracht wurde. Miss L u pescu arbeitete mit Listen und Bod verstand nicht, we l chen Nutzen das haben sollte. Er saß in der Krypta und hatte nur den einen Wunsch: wieder draußen zu sein im Abendlicht, unter dem Geiste r mond.
Als die Stunde vorbei war, machte er sich in der mi e sesten Stimmung davon. Er hielt Ausschau nach Spie l kameraden, fand aber niemanden. Nur ein gr o ßer grauer Hund streunte zwischen den Grabsteinen umher, hielt aber stets Abstand zu ihm.
Die Woche wurde noch schlimmer.
Miss Lupescu brachte ihm weiterhin selbst gekochte Sachen mit: Knödel, die in Schweinefett schwa m men, eine sämige dunkelrote Suppe mit einem Klacks saurer Sahne, kalte gekochte Kartoffeln, Dauerwürste mit viel Kno b lauch, hart gekochte Eier in einer ekl i gen grünen Soße. Er aß so wenig wie möglich davon. Auch der U n terricht ging weiter. Zwei Tage lang brachte sie ihm nichts anderes bei als Hilferufe in allen möglichen Sprachen. Und sie klop f te ihm mit i h rem Stift auf die Finger, wenn er Fehler machte oder die Antwort schuldig blieb. Am dritten Tag bombardierte sie ihn damit. »Auf Fra n zösisch?«
»Au secours.«
»Morse-Alphabet?«
»S-O-S. Dreimal kurz, dreimal lang, dreimal kurz.«
»Nachthund?«
»Zu dumm. Jetzt komme ich nicht darauf, was ein Nachthund ist.«
»Ihre Flügel sind unbehaart, sie fliegen tief und schnell. Sie besuchen nicht diese Welt, sondern sind im roten Himmel über der Straße nach Ghulheim zu Hause.«
»Das muss ich doch nicht wissen.«
Miss Lupescu kniff den Mund noch mehr zusa m men. Dann sagte sie nur: »Nachthund?«
Bod machte einen Laut tief in der Kehle, wie sie es ihm beigebracht hatte. Einen kehligen Schrei wie der e i nes Adlers. Sie zog die Nase hoch. »So ist es recht.«
Bod sehnte den Tag herbei, an dem Silas endlich z u rückkehrte.
Er sagte zu Miss Lupescu: »Hin und wieder treibt sich ein großer grauer Hund auf dem Friedhof he r um. Er ist aufgetaucht, als Sie gekommen sind. Ist das Ihr Hund?«
Miss Lupescu zog ihre Krawatte straff. »Nein«, sagte sie.
»Sind wir fertig?«
»Für heute, ja. Ich gebe dir die Liste zum Auswendi g lernen bis morgen.«
Miss Lupescus Listen waren in einer blassen roten Tinte auf weißem Papier gedruckt und rochen sel t sam. Bod nahm die neue Liste mit auf den Platz am Hang und versuchte, sich die Wörter einzuprägen, doch er war mit den Gedanken nicht bei der Sache. Er faltete das Blatt zusammen und versteckte es unter einem Stein.
Keiner spielte heute Nacht mit ihm. Keiner wollte u n ter dem großen Sommermond mit ihm spielen, plaudern, umherstreifen oder klettern.
Er ging hinunter zur Gruft der Owens und klagte den Zieheltern sein Leid. Doch Mrs Owens wollte nichts Nachteiliges über Miss Lupescu hören, schon allein de s wegen, weil Silas sie als Lehrerin ausgewählt hatte. Mr Owens zuckte nur die Schultern und e r zählte Bod von seiner Zeit als Tischlerlehrling und wie gern er all die nützlichen Dinge gelernt hätte, die Bod lernen musste, was für Bod überhaupt kein Trost war.
»Solltest du jetzt nicht eigentlich lernen?«,
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