Das Graveyard Buch
das, was die lebendigen Menschen machen?, fragte sich Bod, aber er wusste, dass das nicht stim m te. Das hier war etwas Besonderes.
Die junge Frau, die er vorhin mit ihrem Kinderw a gen gesehen hatte, stand jetzt neben ihm, hielt ihr B a by auf dem Arm und wiegte den Kopf im Rhythmus der Musik.
»Wie lange spielt die Musik noch?«, fragte Bod seine Nachbarin, doch sie sagte nichts, sie lächelte nur und wiegte sich hin und her. Bod hatte nicht den Ei n druck, dass sie sonst oft lächelte. Als er sich schon sicher war, dass sie ihn nicht gehört hatte oder dass er unsichtbar geworden war oder dass er einfach nicht jemand war, dem sie zuhören wollte, sagte sie wie zu sich selbst:
»Menschenskind, das is ja wie Weihnachten.« Sie sa g te das wie im Traum, als ob sie sich selbst von außen s ä he. Und im gleichen unwirklichen Ton fuhr sie fort: »Eri n nert mich an Omas Schwester, Tante Clara. An Heili g abend sind wir immer zu ihr gegang’, Oma war da schon tot, und sie hat für uns auf ihr’m alten Klavier gespielt. Sie hat dann was gesung’ und wir ham Schokolade und Nüsse gegessen. An die Li e der kann ich mich nich mehr erinnern, aber die M u sik hier klingt so wie die ganzen Lieder zusamm’.«
Das Baby, den Kopf an ihre Schulter gelehnt, schien zu schlafen, aber eine Hand bewegte sich im Takt der Musik.
Dann verstummte die Musik und über den ganzen Platz legte sich eine gedämpfte Stille, wie an manchen Wintertagen, wenn es zu schneien beginnt. Alle Gerä u sche waren verschluckt von der Nacht und von den vi e len Menschen auf dem Platz, die ganz still d a standen und den Atem anhielten.
Eine Turmuhr schlug irgendwo ganz in der Nähe, das Mitternachtsläuten, und da kamen sie.
Sie kamen, in Fünferreihen die Straße füllend, in einer feierlichen Prozession und im Takt der Musik den Hügel vom Friedhof herab. Bod kannte die me i sten von ihnen. In der ersten Reihe erkannte er Mutter Slaughter und J o siah Worthington und den alten Grafen, der bei einem Kreuzzug verwundet worden war und der zurückg e kommen war, um zu sterben, und Doktor Trefusis, und alle sahen wichtig und fe i erlich aus.
Aus der Menge kamen erstaunte Rufe. Irgendjemand fing an zu weinen und sagte: »Herr, erbarme Dich unser, das ist das Gericht über uns, ja wirklich.« Die meisten schauten freilich nur und waren genauso wenig übe r rascht, wie wenn das alles in einem Traum geschehen wäre.
Die Toten marschierten auf den Platz, Reihe um Re i he. Josiah Worthington schritt die Stufen hinauf, bis er neben Mrs Caraway, der Oberbürgermeisterin, stand. Er strec k te den Arm aus und sagte so laut, dass alle auf dem Platz es hören konnten: »Edle Dame, darf ich bitten, zum Da n se Macabre wird geschritten.«
Mrs Caraway zögerte. Sie warf einen Hilfe suche n den Blick auf den Mann neben ihr. Er trug einen Hausmantel, einen Schlafanzug und Pantoffeln und er hatte eine weiße Blume an seinem Hausmantel. Er lächelte und nickte. »Aber natürlich«, sagte Mr C a raway.
Sie streckte die Hand aus. Als ihre Finger Josiah Worthington berührten, setzte die Musik wieder ein. Wenn das, was Bod bisher gehört hatte, ein Prälud i um war, dann war das jetzt kein Präludium mehr; das war die Musik, deretwegen die Leute gekommen waren, eine Melodie, die ihnen in den Füßen und in den Fingern juckte.
Die Lebenden und die Toten reichten sich die Hand und begannen zu tanzen. Mutter Slaughter tanzte mit dem Mann mit dem Turban, während der G e schäftsmann mit Louisa Bartleby tanzte. Mrs Owens lächelte Bod zu, als sie den alten Zeitungsverkäufer bei der Hand nahm, und Mr Owens nahm ohne jede Herablassung die Hand eines kleinen Mädchens und das Mädchen nahm seine Hand, als ob es schon sein ganzes Leben lang darauf g e wartet hätte, mit ihm zu tanzen. Dann spürte Bod selbst, wie eine Hand sich um die seine schloss, und der Tanz b e gann.
Liza Hempstock grinste ihn an. »Das ist schön«, sagte sie, als sie beide die ersten gemeinsamen Schritte mac h ten. Und sie sang zur Melodie der Musik:
»Schritt nach vorn und Schritt zur Seit,
Den Danse Macabre tanzt man heut ’ «
Die Musik erfüllte Bod mit wilder Freude und seine Füße bewegten sich, als ob sie die Schritte schon ke n nen würden, als ob sie sie immer schon gekannt hä t ten.
Er tanzte mit Liza Hempstock, und als ihr Tanz zu Ende war, nahm Fortinbras Bartleby ihn bei den Händen und tanzte mit ihm weiter, vorbei an den Reihen der Ta n zenden, die sich teilten und wieder
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