Das Graveyard Buch
staubigen Fidel vorspielte, aber so etwas hatte er noch nie gehört: Es schwoll machtvoll an, wie die Musik am Anfang von etwas, ein Vorspiel vielleicht, ein Präludium, oder eine Ouvertüre.
Er schlüpfte durch die verschlossene Pforte und mac h te sich auf den Weg den Hügel hinunter in die Altstadt. Er kam an der Frau Oberbürgermeister vorbei, die an einer Straßenecke stand und einem G e schäftsmann eine weiße Blume ans Revers heftete.
»Ich mache aber keine privaten Spenden«, sagte der Mann, »das überlasse ich der Büroleitung.«
»Es ist nicht für einen wohltätigen Zweck«, sagte Mrs Caraway, »es ist ein alter Brauch.«
»Ach so«, sagte der Mann, drückte die Brust mit der kleinen weißen Blüte heraus, stolz wie Oskar, und ging davon.
Als Nächstes kam eine junge Frau mit einem Kinde r wagen vorbei.
»Wofür is’n das?«, fragte sie argwöhnisch, als die Oberbürgermeisterin herantrat.
»Eine für Sie und eine für das Kleine da«, sagte die Oberbürgermeisterin.
Sie steckte die Blume an den dicken Wintermantel der Frau und klebte dem Baby die Blume mit Kleb e band an den Mantel.
»Aber wofür is’n das?«, fragte die junge Frau wi e der. »So ein Altstadt-Ding«, antwortete die Frau Oberbür ge r meister unbestimmt. »Eine Art Tradit i on.«
Bod ging weiter. Wo er auch hinkam, überall sah er Leute mit weißen Blumen. An einer anderen Str a ßenecke sah er die Männer, die die Oberbürgerme i sterin begleitet hatten, jeder mit einem Korb, aus dem sie weiße Blumen verteilten. Nicht jeder nahm eine Blume, aber die meisten schon.
Die Musik erklang immer noch, irgendwo, an der Schwelle der Wahrnehmung, fremd und feierlich. Bod legte den Kopf schief und versuchte zu bestimmen, w o her sie kam, doch vergeblich. Sie war in der Luft und überall um ihn herum: im Flattern der Fahnen und Ma r kisen, im Getöse des Verkehrs, im Klackern der Absätze auf den trockenen Pflaste r steinen …
Und noch etwas Wunderliches fiel Bod auf, als er die heimwärts strebenden Menschen beobachtete. Sie gingen im Takt der Musik.
Der Mann mit dem Bart und dem Turban hatte fast keine Blumen mehr in seinem Korb. Bod ging zu ihm hinüber.
»Entschuldigung«, sagte Bod.
Der Mann fuhr zusammen. »Ich habe dich gar nicht kommen sehen«, sagte er vorwurfsvoll.
»Tut mir leid«, sagte Bod. »Kann ich auch eine Blume haben?«
Der Mann mit dem Turban schaute Bod misstrauisch an.
»Wohnst du hier in der Gegend?«, wollte er wissen.
»Aber ja.«
Der Mann gab Bod eine weiße Blume. Bod nahm sie und schrie »Au!«, als etwas ihn in den Daumen gest o chen hatte.
»Du musst sie dir an den Mantel stecken«, sagte der Mann. »Pass auf die Nadel auf.«
Ein dunkelroter Tropfen erschien auf Bods Daumen. Er leckte ihn ab, während der Mann die Blume an Bods dickem Pullover befestigte. »Ich habe dich hier noch nie gesehen«, sagte er zu Bod.
»Ich wohne hier, wirklich«, sagte Bod. »Wofür sind die Blumen?«
»Es war ein Brauch in der Altstadt«, antwortete der Mann, »bevor sich die Stadt drum herum ausg e dehnt hat. Wenn oben auf dem Friedhof die Winte r blumen blühen, schneidet man sie ab und verteilt sie an alle, Mann und Frau, Jung und Alt, Arm und Reich.«
Die Musik wurde lauter jetzt. Bod fragte sich, ob er sie besser hörte, weil er die Blume am Pullover trug. Er konnte einen Takt ausmachen wie fernes Tro m meln und eine schrille, schleppende Melodie, sodass er am liebsten zum Rhythmus des Klangs im Gleic h schritt losmarschiert wäre.
Bod war noch nie einfach so herumgebummelt und hatte geschaut. Er hatte vergessen, dass es verboten war, den Friedhof zu verlassen, vergessen auch, dass in dieser Nacht die Toten auf dem Hügel nicht mehr in ihren Gr ä bern waren. Er dachte nur noch an die Altstadt und er schlenderte weiter, hin zu den Anl a gen vor dem alten Rathaus (das heutzutage nur noch ein Museum und das Fremdenverkehrsamt beherbergte; der Sitz der Stadtve r waltung war mittlerweile in einem viel imposanteren, aber gesichtslosen G e bäude außerhalb des Stadtkerns).
In den Anlagen, jetzt, mitten im Winter, kaum mehr als eine Rasenfläche mit ein paar Stufen, einer Statue, einem Strauch, lustwandelten bereits ein paar Leute.
Bod lauschte der Musik wie gebannt. Die Leute strö m ten zu zweit, in Familien oder allein auf den Platz. Noch nie hatte er so viele Lebende auf einmal gesehen. Es mochten Hunderte sein oder mehr und alle atmeten, jeder so lebendig wie er und jeder mit einer weißen Blume.
Ist es
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