Das Graveyard Buch
polierte die Wände seines staub i gen Sarges. »La-la-la-hump«, sang er. »La-la-la-hump.« Und bei jedem Hump schwang er den Lappen mit einer wilden Körperdrehung.
»Singst du nicht auch dieses Lied?«
»Welches Lied?«
»Das Lied, das alle singen.«
»Keine Zeit dafür«, sagte Fortinbras. »Erst morgen . Morgen dann.«
»Keine Zeit«, sagte auch Louisa, die im Kindbett g e storben war und Zwillinge geboren hatte. »Wir h a ben zu tun.«
Und mit ihrer sanften, klaren Stimme sang sie:
»Jeder hört ihn, übt den Schritt,
Tanzt den Danse Macabre mit.«
Bod ging zu der baufälligen Kapelle. Er schlich sich in die Krypta, wo er sich hinsetzte und darauf wartete, dass Silas zurückkam. Ihm war kalt, das schon, aber die Kälte machte Bod nichts aus. Der Friedhof gab ihm Geborge n heit und die Toten haben nichts gegen Kälte.
Sein Vormund kam in den frühen Morgenstunden heim und hatte eine große Plastiktüte dabei.
»Was ist da drin?«
»Kleider. Für dich. Probier sie an.« Silas zeigte ihm einen grauen Pullover, der die gleiche Farbe hatte wie Bods Laken, eine Jeans, Unterwäsche und Schuhe – blassgrüne Turnschuhe.
»Wofür sind die?«
»Du meinst, außer dass man sie anzieht? Also e r stens finde ich, dass du alt genug bist – du bist jetzt zehn Jahre alt, oder? –, und Kleider, wie normale, lebende Me n schen sie tragen, sind eine kluge Wahl. Eines Tages wirst du sie sowieso tragen müssen, wa r um sich also nicht schon jetzt daran gewöhnen? Und sie können auch eine Tarnung sein.«
»Was ist eine Tarnung?«
»Wenn eine Sache einer anderen Sache so ähnlich ist, dass Leute, die sie beobachten, nicht wissen, was sie da anschauen.«
»Aha. Ich verstehe, glaube ich.« Bod zog die Sachen an. Mit den Schnürsenkeln hatte er einige Mühe und S i las musste ihm zeigen, wie er sie binden sollte. Es kam Bod außerordentlich kompliziert vor und er musste sie mehr e re Male binden und die Schleife wieder lösen, bevor S i las mit ihm zufrieden war. Erst dann wagte es Bod, seine Frage zu stellen.
»Silas, was ist ein Danse Macabre?«
Silas hob die Augenbrauen und legte den Kopf schief. »Wo hast du davon gehört?«
»Alle auf dem Friedhof reden von nichts anderem. Ich glaube, es soll morgen losgehen. Was ist ein Danse M a cabre?«
»Es ist ein Tanz«, sagte Silas.
»Jeder hört ihn, übt den Schritt, tanzt den Danse M a cabre mit«, sagte Bod aus der Erinnerung. »Hast du di e sen Danse Macabre auch schon getanzt? Was ist das für ein Tanz?«
Sein Vormund schaute ihn aus unergründlichen schwarzen Augen an. »Ich weiß es nicht. Ich weiß zwar einiges, weil ich lange Zeit nachts auf dieser Erde unte r wegs war, aber ich weiß nicht, wie dieser Danse Macabre vonstattengeht. Man muss entweder lebendig sein oder man muss tot sein – und ich bin weder das eine noch das andere.«
Bod zitterte vor Kälte. Er hätte seinen Vormund so gern umarmt, ihn festgehalten und ihm gesagt, dass er ihn nie verlassen werde, aber das war ganz unvo r stellbar. Er konnte Silas genauso wenig umarmen, wie er den Mon d schein festhalten konnte. Nicht weil sein Vormund körperlos war, sondern weil es falsch wäre. Es gab Me n schen, die man umarmen konnte, und es gab Silas.
Sein Vormund musterte Bod nachdenklich, ein kleiner Junge in seinen neuen Kleidern. »Gut«, sagte er. »Jetzt siehst du aus, als hättest du dein ganzes Leben lang au ße r halb des Friedhofs gelebt.«
Bod lächelte stolz. Doch dann erlosch das Lächeln wieder und Bod schaute wieder ernst drein. »Aber du kommst doch immer wieder hierher, Silas, oder?«, sagte er. »Und ich muss nicht weggehen, wenn ich es nicht will?«
»Alles zu seiner Zeit«, antwortete Silas und sonst sa g te er in dieser Nacht nichts mehr.
Bod wachte früh auf am nächsten Tag, als die Sonne wie eine Silbermünze am grauen Winterhimmel stand. Es war so leicht, die wenigen hellen Stunden des Tages zu ve r schlafen und den ganzen Winter zu verbringen wie eine einzige lange Nacht. Jede Nacht vor dem Schlafengehen nahm er sich vor, noch bei Tageslicht aufzuwachen und die gemütliche Gruft der Owens’ zu verlassen.
Ein seltsamer Geruch hing in der Luft, scharf und blumig. Bod folgte ihm den Hügel hinauf bis zur Ägypt i schen Allee, wo der winterharte Efeu wild w u cherte und mit seinem immergrünen Gewirr die pseudoägyptischen Wände, Statuen und Hierogl y phen verbarg.
Hier war der Duft am stärksten. Bod fragte sich im ersten Augenblick, ob es vielleicht geschneit
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