Das Graveyard Buch
auf. Wenn er das getan hätte, hätte er zwei wässrig blaue Augen gesehen, die ihn durch ein Schlafzimmerfenster aufmerksam beobac h teten.
Er bog in eine schmale Gasse ein, wo er sich auße r halb des Laternenlichts wohler fühlte.
»Du läufst also davon«, sagte eine Mädchenstimme.
Bod blieb stumm.
»Das ist der Unterschied zwischen den Lebenden und den Toten«, fuhr die Stimme fort. Es war Liza Hempstocks Stimme, wie Bod jetzt erkannte, obwohl das Hexenmädchen nirgendwo zu sehen war. »Die Toten enttäuschen einen nicht, oder? Sie haben ihr Leben g e habt, sie haben getan, was sie getan haben. Wir ändern uns nicht. Die Lebenden, die enttäuschen einen immer. Da trifft man einen Jungen, der mutig und edel ist, und kaum ist er größer geworden, läuft er davon.«
»Das ist gemein!«, sagte Bod.
»Der Nobody Owens, den ich kannte, der würde nicht einfach vom Friedhof weglaufen, ohne den Leuten w e nigstens Lebewohl zu sagen, die sich um ihn gekümmert haben. Du wirst Mrs Owens das Herz brechen.«
Daran hatte Bod gar nicht gedacht. »Ich hatte Streit mit Silas«, sagte er.
»Und?«
»Er will, dass ich auf den Friedhof zurückkomme und mit der Schule aufhöre. Er glaubt, das ist zu g e fährlich.«
»Warum? Mit deinen Fähigkeiten und mit meiner H e xenkunst bemerken die anderen dich doch kaum.«
»Ich bin in etwas verwickelt worden. Da waren Typen, die andere Schüler gepiesackt haben. Ich wol l te, dass sie damit aufhören. Und dadurch habe ich die Aufmerksa m keit auf mich gezogen …«
Liza schwebte jetzt als nebelhafte Gestalt neben Bod die Gasse entlang.
»Er ist irgendwo hier draußen und will dir ans L e ben«, sagte sie. »Der, der deine Familie umgebracht hat. Wir vom Friedhof, wir wollen, dass du am Leben bleibst. Wir wollen, dass du uns überraschst und en t täuschst, dass du uns beeindruckst und erstaunst. Komm heim, Bod.«
»Ich glaube … ich habe Dinge zu Silas gesagt; er wird wütend sein.«
»Wenn ihm nichts an dir liegen würde, wäre er auch nicht wütend auf dich«, sagte sie nur.
Das nasse Herbstlaub war glitschig unter Bods F ü ßen und der Nebel verwischte alle Konturen. Nichts war so eindeutig auf der Welt, wie er noch vor ein paar Minuten gedacht hatte.
»Ich habe mich im Traumwandeln versucht«, sagte er.
»Und wie ist es gelaufen?«
»Gut«, sagte er. »Na ja, ganz gut.«
»Das solltest du Mr Pennyworth sagen. Er würde sich freuen.«
»Stimmt, das sollte ich.«
Sie kamen ans Ende der Gasse und statt nach rechts abzubiegen, hinaus in die Welt, bog er nach links in die High Street ein, die ihn zur Dunstan Road und dann zum Friedhof auf dem Hügel führen würde.
»Was machst du jetzt?«, fragte Liza Hempstock.
»Heimgehen«, sagte Bod, »wie du gesagt hast.«
Die Lichter von Läden kamen in Sicht. Bod roch das heiße Öl von der Frittenbude an der Ecke. Die Pflaste r steine glänzten.
»Gut so«, sagte Liza Hempstock, die jetzt wieder nur mehr eine Stimme war. Dann rief die Stimme. »Schnell, lauf! Oder mach dich unsichtbar. Da stimmt was nicht!«
Bod wollte Liza gerade sagen, dass doch alles in Or d nung sei und sie sich keine Sorgen zu machen brauche, als ein großes Auto mit einem Blinklicht auf dem Dach auf sie zusteuerte und kurz vor ihnen a n hielt.
Zwei Männer stiegen aus. »Moment mal, junger Mann«, sprach ihn einer der beiden an. »Polizei. Was machst du so spät noch auf der Straße?«
»Ich wusste nicht, dass das verboten ist«, antwortete Bod.
Der größere von den beiden Polizisten öffnete die hi n tere Wagentür. »Ist das der Junge, den Sie be o bachtet haben, Miss?«, sagte er.
Mo Quilling stieg aus dem Fond und schaute Bod l ä chelnd an. »Das ist er«, bestätigte sie. »Er war in uns e rem Garten und hat Sachen kaputt gemacht. Dann ist er weggelaufen.« Sie sah Bod fest an. »Ich habe ihn von me i nem Schlafzimmer aus gesehen«, sagte sie. »Er muss der sein, der auch Fenster eing e schlagen hat.«
»Wie heißt du?«, fragte der kleinere Polizist. Er hatte einen rotblonden Schnurrbart.
»Nobody«, sagte Bod. Gleich darauf schrie er auf: »Au«, denn der rotblonde Polizist hatte ihn heftig am Ohr gezogen. »Erzähl mir nicht so einen Mist«, sagte er. »B e antworte einfach ganz höflich meine Fragen, klar?«
Bod schwieg.
»Wo wohnst du eigentlich?«, wollte der Beamte wi s sen.
Bod schwieg weiter. Er versuchte, unsichtbar zu we r den, aber das Unsichtbarwerden beruht darauf, dass die Aufmerksamkeit der Leute von einem abgle i
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