Das grobmaschige Netz - Roman
Antwort zufrieden zu sein, und sie redete los, ohne auf weitere Ermunterungen zu warten.
»Ich bin jetzt allein, verstehen Sie ... sind Sie Kommissar?«
Van Veeteren nickte.
»Ich weiß nicht, ob Sie das verstehen können, aber irgendwie habe ich das gespürt. Ich habe gewusst, dass ich am Ende übrig sein würde.«
»Ihr Mann?«
»Ist 1969 gestorben ... und das war wohl auch besser so. Er war zuletzt ... nicht mehr er selber. Er trank, aber am Ende hat ihn der Krebs umgebracht.«
Van Veeteren schob sich ein bleiches Plätzchen in den Mund.
»Die Kinder haben ihn nicht vermisst, aber er war wirklich kein böser Mensch. Er hatte nur einfach keine Kraft. So geht es vielen Menschen, oder was meinen Sie, Herr Kommissar?«
»Wie alt waren Ihre Kinder... es geht hier doch um Eva und um einen Sohn, wenn ich das richtig verstanden habe?«
»Fünfzehn. Sie sind Zwillinge ... waren Zwillinge, oder wie soll ich das sagen?«
Sie zog ein Taschentuch aus ihrer Schürze und putzte sich die Nase.
»Rolf und Eva... ja, ein Glück, dass sie einander hatten.«
»Warum das?«
Sie zögerte.
»Walter hatte ... eine ziemlich altmodische Vorstellung von Kindererziehung.«
»Ich verstehe. Er hat sie geschlagen?«
Sie nickte. Van Veeteren schaute aus dem Fenster. Er
brauchte keine weiteren Fragen mehr zu stellen. Er wusste, was das bedeutete, er brauchte nur an seine eigene Kindheit zurückzudenken.
Eingeschlossen in der Dachkammer. Schwere Schritte auf der Treppe. Dieser trockene Husten.
»Was ist aus Ihrem Sohn geworden ... aus Rolf?«
»Ausgewandert. Hat mit nur neunzehn auf einem Boot angeheuert. Sicher steckte ein Mädchen dahinter, aber er hat nie etwas erzählt ... er war verschlossen ... ein bisschen wie sein Vater. Ich hoffe, das hat sich ausgewachsen.«
Ein Unterton in ihrer Stimme berichtete von... ja, wovon eigentlich?, fragte sich Van Veeteren. Dass sie schon alles aufgegeben hatte und trotzdem ihr Leben bis zum Ende leben wollte?
»Gehen Sie in die Kirche, Frau Ringmar?«
»Nie. Warum fragen Sie?«
»Spielt keine Rolle. Was ist aus Rolf geworden?«
»Er hat sich in Kanada niedergelassen. Ich habe ... habe ihn seit seinem letzten Abend zu Hause nicht mehr gesehen.«
Obwohl das schon so lange her war, fiel es ihr immer noch schwer, das auszusprechen, das war deutlich zu merken.
»Er hat doch sicher geschrieben?«
»Zwei Briefe. Einer kam 1973, das war in dem Jahr, in dem er weggegangen ist. Der andere zwei Jahre später. Ich glaube...«
»Ja?«
»Ich glaube, er hat sich geschämt. Vielleicht hat er an Eva geschrieben, das hat sie jedenfalls behauptet, aber sie hat mir nie etwas gezeigt. Vielleicht hat sie das auch nur erzählt, um mir eine Freude zu machen.«
Sie schwiegen eine Weile. Van Veeteren nippte am Kaffee, und Frau Ringmar drohte mit der Plätzchenschale.
»Wann ist Eva von zu Hause weggezogen?«
»Ein halbes Jahr später als Rolf. Sie hatte Abitur gemacht
und in Karpatz einen Studienplatz bekommen. Sie war wirklich begabt. Sie hat Sprachen studiert und wurde dann Französisch- und Englischlehrerin, aber das wissen Sie natürlich...«
Van Veeteren nickte.
»Ja, danach hat sie diesen Berger geheiratet. Es hätte vielleicht trotz allem gut gehen können. Nach ein paar Jahren kam dann ja das Kind, Willie ... das waren glückliche Jahre, glaube ich, aber dann kam das Unglück... er ist ertrunken. Wir sind... wir sind eine Unglücksfamilie, Herr Kommissar, ich glaube, das habe ich mein Leben lang gewusst. Es gibt solche Menschen ... es geht einfach nicht ... glauben Sie das nicht auch?«
Van Veeteren leerte seine Kaffeetasse. Er dachte kurz an seinen Sohn.
»Doch, Frau Ringmar, genauso ist es, davon bin ich überzeugt.«
Sie lächelte nervös. Van Veeteren erkannte, dass sie zu den Menschen gehörte, die ihrem Elend immer noch eine gewisse bittere Befriedigung abgewinnen.
Eine Art: Na, lieber Gott, was hab ich dir gesagt! Ich wusste doch von Anfang an, dass du mich austricksen wolltest!
»Nach dem Unglück haben sie sich dann scheiden lassen, wenn ich richtig unterrichtet bin?«
»Ja, Evas Nerven waren danach angegriffen ... und Andreas konnte wohl nicht noch mehr ertragen.«
»Wie meinen Sie das?«
»Ja, den Verlust von Willie und Eva, die trank und einfach nicht ... sie musste in eine Klinik ... für ein halbes Jahr, haben Sie das gewusst?«
Van Veeteren nickte.
»Ja, und das war’s dann.«
Sie seufzte. Aber wiederum war das keine totale Resignation. Es war eher
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