Das grobmaschige Netz - Roman
acht aufgestanden.«
»Das wissen wir.«
Der Anwalt erhob sich, zog den Schlips gerade und knöpfte seine Jacke zu.
»Ich glaube, das reicht für heute. Ich danke Ihnen, aber ich werde morgen weitere Fragen stellen müssen. Ich hoffe auf Ihr Entgegenkommen.«
»War ich heute nicht entgegenkommend?«
»Doch, sehr.«
»Darf ich die Zigaretten behalten?«
»Bitte sehr. Darf ich eine letzte Frage stellen, die vielleicht nicht ganz ... angenehm ist?«
»Natürlich.«
»Ich halte diese Frage für wichtig. Bitte, überlegen Sie sich die Antwort genau.«
»Sicher.«
»Wenn Sie sie nicht beantworten wollen, dann habe ich dafür vollstes Verständnis, aber ich hielte es für besser, wenn Sie ehrlich zu sich selber wären. Also, haben Sie das Gefühl, dass Sie sich wirklich an die Ereignisse an diesem Abend erinnern wollen ... oder würden Sie das lieber vermeiden?«
Mitter gab keine Antwort. Der Anwalt sah ihn nicht an.
»Ich bin auf Ihrer Seite. Ich hoffe, das ist Ihnen bewusst.«
Mitter nickte. Der Anwalt drückte auf den Klingelknopf, und schon nach wenigen Sekunden erschien der Wärter, um ihn aus der Zelle zu lassen. In der Türöffnung blieb Rüger stehen. Er schien zu zögern.
»Ich soll von meinem Sohn grüßen. Von Edwin. Edwin Rüger. Sie hatten ihn vor zehn Jahren in Geschichte, ich weiß nicht, ob Sie sich an ihn erinnern... er mochte Sie jedenfalls leiden. Sie waren ein interessanter Lehrer.«
»Interessant?«
»Ja, das hat er gesagt.«
Mitter nickte noch einmal.
»Ich kann mich an ihn erinnern. Grüßen Sie zurück.«
Sie reichten sich die Hand, dann war Mitter wieder allein.
3
Ein Insekt kroch seinen nackten rechten Arm hoch. Ein winziges Geschöpf von nur zwei Millimetern; er betrachtete es und fragte sich, wo es wohl hinwollte.
Zum Licht vielleicht. Er hatte die Nachttischlampe eingeschaltet, obwohl es mitten in der Nacht war. Er konnte die Dunkelheit einfach nicht ertragen. Das war eigentlich seltsam: Dunkelheit hatte für ihn nie irgendeine Gefahr dargestellt, nicht einmal als Kind ... er konnte sich an mehrere Male erinnern, wo er unverdient für seinen Mut und seine Furchtlosigkeit gelobt worden war, einfach nur, weil er keine Angst vor der Dunkelheit gehabt hatte. Vor allem Mankel und Li hatten das toll gefunden.
Mankel war jetzt tot. Was aus Li geworden war, wusste er nicht ... seltsam, dass sie ihm jetzt einfielen; er hatte seit Jahren nicht mehr an die beiden gedacht. Es wäre besser, wenn
ihm andere Dinge eingefallen wären... aber wer hat schon die unergründlichen Mechanismen seines Gedächtnisses im Griff?
Er schaute auf die Uhr. Halb vier. Wolfsstunde. Hatte er etwas geträumt?
Auf jeden Fall hatte er unruhig geschlafen. Vielleicht war er im Schlaf auf etwas Wichtiges gestoßen? In den letzten Tagen war er mehr und mehr zu der Überzeugung gelangt, dass ihm im Traum alles wieder einfallen würde. Wenn er wach war, passierte gar nichts, nach mehr als einer Woche wusste er nicht mehr über die fatale Nacht als am ersten Morgen... ein missratenes Fixierbad, bei dem nichts, nicht einmal ein vager Umriss auf dem Papier erscheinen würde. So als sei er gar nicht dabei gewesen, als sei nach ihrem wilden Liebesakt nichts mehr passiert. Die letzten Bilder waren deutlich genug ... Evas Hinterbacken, ihr im Moment der Ekstase fast wahnwitzig gekrümmter Rücken, ihre wogende Brust, ihre Nägel in seiner Haut ... Es gab noch andere Bilder als die, die er Rüger genannt hatte, aber das spielte keine Rolle ... Nach der Umarmung in der Küche war alles leer. Blank wie ein Spiegel.
Wie neues Eis über dunklem Wasser.
War er einfach eingeschlafen? Oder ohnmächtig geworden? Als er morgens erwacht war, hatte er nackt in seinem Bett gelegen.
Was, zum Teufel, war denn bloß passiert?
Eva? In seinen Träumen hatte er mehrmals ihre Stimme gehört, da war er sich sicher, aber er konnte sich nicht an ihre Worte erinnern. Nicht an die Botschaft, nur an ihre Stimme ... dunkel, spöttisch, ein wenig lockend ... er hatte ihre Stimme immer geliebt.
Die Wohnung hatte ziemlich ordentlich ausgesehen. Abgesehen von den Resten in der Küche und den Kleidungsstücken auf dem Boden. Zwei volle Aschenbecher, einige halb leere
Gläser, die Flasche in der Diele ... das hatte er weggeräumt, ehe die Polizei gekommen war.
Dieselben Fragen. Immer wieder. Immer von neuem. Sie prallten an ihm ab wie eine Hand voll Kieselsteine vom Eis. Und nichts konnte das Dickicht durchdringen. Nichts.
Und wenn
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