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Das größere Wunder: Roman

Das größere Wunder: Roman

Titel: Das größere Wunder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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Jonas, »ich absolut nicht, ich überhaupt nicht, o nein!«

40
     
    Im Gegensatz zu jenem von Mike erinnerte sich Jonas auch nach Jahren noch an jedes Detail von Werners Begräbnis, worüber er sich später selbst wunderte, denn immerhin war er davor fast eine Woche lang mit Beruhigungstabletten und Rotwein vollgepumpt zu Hause, bei Harry oder bei Dr. Schwarzenbrunner gelegen, und diese Woche war für ihn wie ausgelöscht.
    Die Aufbahrung, die Verabschiedung, priesterlos und ohne Ansprache, die stummen starren Gesichter, Piccos Trauer, Werners Eltern, verloren in einer Ecke. Er erinnerte sich an alles, doch er wollte sich nicht erinnern, und er verbannte diesen Tag aus seinem Gedächtnis. Auch das Grab besuchte er niemals. Was nun dort neben seinem Bruder lag, war nicht sein Freund, es war ein verwesendes absurdes Nichts, eine unzuverlässige Hülle, wie er selbst in einer steckte, in ihr herumlief und sich fragte, was das für eine Welt war, was für ein Leben, was für eine Zeit.
     
    Einige Wochen verbrachte er in Irland. Er hatte ein kleines Haus an der Küste gemietet, wo ihn Zach ablieferte und am Ende abholte, und dazwischen lag Jonas nur da und heulte, saß am Meer und heulte, fuhr mit dem Fahrrad in ein Pub, aß eine Kleinigkeit, sperrte sich in der Toilette ein und heulte und fuhr wieder nach Hause, um dort zu heulen und die Welt zu verfluchen. Wenn er las, glitten seine Gedanken ab, wenn er auf das Meer hinaus schaute, dachte er nur an Werner und an das, was sie gemeinsam hatten erleben wollen, und nachts schrak er aus Träumen hoch, in denen sie beide noch dagewesen waren, Werner und Mike, und dann sprang er auf und schrie herum und warf Pfannen und Tassen ins Freie. Bald konnte er den Ort, an den es ihn verschlagen hatte, nicht mehr ertragen, er sah überall nur noch Ärger und Trauer und Schuld, und am liebsten hätte er die ganze Hütte angezündet. Als Zach ankam, blieben sie nicht einmal fünf Minuten.
    »Geht’s dir besser?« fragte Zach im Auto.
    »Jetzt, ja. Solange ich nicht in den Rückspiegel schaue.«
    »Beim Autofahren gibt es einen Trick, wie du sowieso nie in den Rückspiegel schauen musst.«
    »Da bin ich ja gespannt.«
    »Du musst bloß grundsätzlich schneller fahren als alle anderen.«
     
    Nach seiner Krankheit hatte Jonas beschlossen, er würde nie wieder zulassen, solche Schwäche zu erleben, seinen Körper nicht kontrollieren zu können, er würde diesen Körper als Werkzeug verstehen und nützen. Daher lief er jeden Tag zehn Kilometer durch den Wald, er machte Gymnastik und trainierte mit Hanteln, und wenn der Muskelschmerz und die Erschöpfung am größten waren, war sein Kopf leer, und das war der schönste Lohn für die Anstrengung. Nichts zu denken, nichts zu spüren außer dem Schmerz in den Armen, das war alles, wonach er verlangte.
     
    Der einzige Mensch, mit dem er noch Zeit verbrachte, war Zach. Manchmal übten sie Wing Chun, doch ohne Werner hatte Jonas kein richtiges Interesse mehr daran. Sie waren im Wald unterwegs, fuhren mit dem Mercedes herum, unterhielten sich auf Autobahnraststationen, in Kaufhauscafés und vor Almhütten.
    »Weißt du schon, was du mit dir anfangen willst?« fragte Zach.
    »Ich glaube, ich will nichts Konkretes tun, jedenfalls jetzt noch nicht.«
    »Was heißt das? Willst du auf der faulen Haut liegen?«
    »Keine Ahnung.«
    »Was willst du denn überhaupt?«
    »Ich möchte erfahren, ob es mir gelingt, immer das Richtige zu tun und nie zu lügen.«
    »Das kannst du vergessen«, sagte Zach.
    »Wieso hast du eigentlich keine Frau oder Freundin?«
    »Wer sagt, dass ich keine habe?«
    »Gesehen habe ich jedenfalls keine, und erzählt hast du auch nie von einer.«
    »Weil du nie gefragt hast. Klar gibt es eine Freundin, aber leider lebt sie nicht hier.«
    »Und ihr seid zusammen?« fragte Jonas argwöhnisch.
    »Was genau, denkst du, ist mit Freundin gemeint? Ich sehe sie eben nur alle zwei Wochen.«
    »Wieder etwas gelernt.«
    »Was findest du daran so ungewöhnlich?«
    »Ich weiß nicht. Wir haben nie über solche Themen geredet. Liebe und so.«
    »Darüber reden ist auch nicht leicht. Man empfindet, wie man nie zuvor empfunden hat, und kann es lange nicht einordnen. Wenn man die ganze Sache verstanden hat, ist es meist schon zu spät. Das ist Liebe.«
    »Was wäre ich ohne deine Weisheiten«, sagte Jonas, und Zach warf einen Schuh nach ihm.
     
    Gegen Ende jenes Sommers fand ein Gespräch zwischen ihnen statt, das Jonas für immer in Erinnerung

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