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Das größere Wunder: Roman

Das größere Wunder: Roman

Titel: Das größere Wunder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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fliegen, sondern in der Luft zu hängen und jeden Moment herabzufallen, der Wind war unbewegt, die Wirklichkeit eine knitternde Folie. Jonas fühlte eine ungeheure Beklemmung, es war ihm, als sähe er etwas Bösem ins Gesicht. Etwas Tiefschwarzem, Unheilvollem und konzentriert Bösem.
    Nie vergaß er diesen Anblick. Werner von hinten, die Arme jubelnd hochgestreckt und offenbar ganz ohne Sensorium für die Düsterkeit des Moments, den Berg hinabrasend, während sich über ihm am Himmel nichts rührte, keine Wolke, kein Vogel, kein Lüftchen, so wie sich auch in der Wiese kein Grashalm regte, kein Insekt aufflog, keine streunende Katze zuckte. Für ein paar Minuten war die Welt eine andere, schwarz, brutal, gnadenlos. Keine Schonung. Kein Heil.

39
     
    Auf dem Weg zum Internetcafé begegnete er Michel, dem Belgier mit dem Pferdeschwanz, der verstört und aufgebracht wirkte.
    »Was ist passiert?« fragte Jonas.
    »Tot ist er! Er ist gestorben!«
    »Dein Freund mit dem gebrochenen Bein?«
    »Die Ärzte sind schuld! Wir haben ihn mit dem Hubschrauber nach Kathmandu fliegen lassen, seine Eltern haben alles bezahlt, und jetzt ist er tot! Und von mir wollen sie wissen, was geschehen ist! Was kann denn ich wissen? War ich dabei? Was weiß ich, was die im Krankenhaus mit ihm gemacht haben!«
    Jonas wusste nicht, was er sagen sollte. Er legte Michel die Hand auf die Schulter. Dieser schrie auf, drehte sich um und verschwand zwischen den Zelten.
    Vor dem Internetcafé standen die Leute in einer langen Schlange an. Jonas reihte sich ein und fragte sich, ob die Zunahme von Trekkern, die seit Tagen das Basislager bevölkerten, etwas mit der Sonnenfinsternis zu tun hatte. Denkbar war es schon, doch er konnte sich nicht vorstellen, dass sie alle so lange bleiben würden. Vermutlich wollten sie bloß einmal das berühmte Basislager sehen und dann nach Kathmandu oder Indien weiterfahren.
    Jemand rempelte ihn von hinten an. Überzeugt, sogleich in eine Auseinandersetzung mit dem seltsamen Hristo zu geraten, drehte er sich um, doch es war Marc, an einer fettigen Hühnerkeule nagend.
    »Was machst du hier? Haben wir kein Internet im Team?«
    »Hadan hielt solches Equipment für verzichtbar, er meinte, es würde uns nur unnötig ablenken, wenn wir ständig unsere Erlebnisse in irgendwelchen Blogs und Zeitungsberichten ausbreiten.«
    »Der elende alte Geizkragen. Hast du einen Blog?«
    »Sehe ich so aus, als hätte ich einen Blog?«
    »Komm mit zu den Argentiniern, da musst du nicht so lange warten wie hier.«
    »Vielen Dank, lieber nicht. Da will dieser Oscar wieder von mir wissen, ob mir eine Insel gehört.«
    »Das tut mir echt leid. Kommt nie mehr vor. Du weißt ja, man sitzt abends beim Bier zusammen, jeder erzählt eine Geschichte …«
    »Hast du’s schon gehört? Dieser junge Belgier ist gestorben.«
    »Ich habe den Typen mit dem Zopf getroffen, der irrt durchs Basislager und erzählt es jedem, der ihm über den Weg läuft. Um den wird man sich kümmern müssen. Ich werde ihm Paco auf den Hals hetzen.«
    Er hielt ihm die Hühnerkeule hin. »Magst du?«
    Jonas konnte nicht antworten, ihn überfiel ein Hustenkrampf, der so schlimm war, dass er meinte, es würde seinen Brustkorb zerreißen. Seine Lungen brannten ebenso wie seine Kehle, die von der eisigen, sauerstoffarmen Luft entzündet war.
    »Ob du es glaubst oder nicht«, sagte Marc, »es laufen hier Leute rum, die einen noch übleren Husten haben als du.«
    »Glaube ich nicht«, stieß Jonas hervor.
    Es dauerte nicht eine Stunde, wie von Marc vorhergesagt, sondern etwas über zwei, bis Jonas endlich am Computer saß.
    Keine Nachricht von ihr.
    Wie gewöhnlich waren die meisten E-Mails von Tanaka. Bis auf eine betrafen sie Geschäftliches, wobei es entweder um den Ankauf von Grundstücken oder um eines der Hilfsprojekte ging, die Jonas in verschiedenen Teilen der Welt ins Leben gerufen hatte und die zwar miteinander kooperierten, jedoch keinen gemeinsamen Namen hatten und auch sonst auf keine Weise zu ihm zurückverfolgbar waren, denn in der Öffentlichkeit als wohltätiger Spender dazustehen war so ungefähr das Letzte, wonach er sich sehnte. In seiner letzten Mail kündigte Tanaka an, nach Kathmandu zu fliegen.
    »Ich will in Ihrer Nähe sein«, schrieb er. »Falls etwas passiert.«
    Das schätzte Jonas an Tanaka, seine Ehrlichkeit. Auf andere mochte er undurchsichtig wirken, und in gewisser Weise war er es natürlich, aber mangelnde Aufrichtigkeit zählte nicht zu seinen

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