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Das größere Wunder: Roman

Das größere Wunder: Roman

Titel: Das größere Wunder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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Unabhängigkeitserklärung zu deklamieren.
    Die ersten Worte hörte Jonas auf Englisch, doch als er sich auf sie konzentrierte, schienen sie sich auf dem Weg von seinem Ohr in seinen Kopf zu verwandeln, zu biegen, zu strecken und zu verzerren, gleichsam aus eigenem Antrieb und mit eigenem Willen. Es war, als seien Worte etwas Physisches, etwas, das sich gummiartig in seinen Kopf schlängelte und dort als etwas anderes, in anderer Form wiederauferstand.
    Er hörte weg. Im Hintergrund vernahm er Werners Sätze als Gemurmel, ein Gemurmel in englischer Sprache. Nun versenkte er sich in den Inhalt, und nach wenigen Sekunden kamen die Sätze auf Deutsch an.
    »Alles in Ordnung?« fragte Werner.
     
    Über diese seltsame Entwicklung in seinem Kopf sprach Jonas nur mit Werner. Er hatte keine Lust, sich in ein Forschungsobjekt verwandeln zu lassen. Stattdessen gruben sie in Bibliotheken fremdsprachige Bücher aus und kauften dem traurigen alten Mann am Bahnhofskiosk alle ausländischen Zeitungen ab. Werner las ihm italienische Balladen vor, russische Beipackzettel, serbische Kriegsansprachen und griechische Sportberichte, und sobald sich Jonas konzentrierte, kamen Werners Sätze auf Deutsch bei ihm an. Allerdings funktionierte das nur bei englischen, französischen, italienischen und russischen Texten, also bei Sprachen, die er zumindest in Ansätzen beherrschte. Vom Serbischen und Griechischen verstand er trotz aller Konzentration kein einziges Wort.
    Werner war von dieser Entwicklung begeistert, Jonas weniger.
    Ich will das nicht, dachte er. Ich höre, was mein bester Freund denkt. Wenn mein Bruder stirbt, weiß ich es vorher. Ich verstehe Fremdsprachen, die ich bisher nur rudimentär beherrscht habe. Was kommt als Nächstes, fliege ich über die Häuser und spreche mit Hunden? Was bin ich? Ein Ungeheuer? Ein Medium? Sehe ich bald Tote?
    Ich will das nicht, dachte er.
     
    »Da ist noch etwas, was ich tun muss«, sagte Werner.
    »Da ist noch einiges, was du tun musst«, sagte Jonas. »Was genau meinst du?«
    Statt einer Antwort führte ihn Werner zum Kombi und öffnete den Kofferraum. Vor Jonas stand ein neuer Rollstuhl.
    »Was um alles in der Welt hast du jetzt wieder im Sinn?«
    »Errätst du es nicht?«
    »Ich will nichts mehr erraten«, sagte Jonas, obwohl er genau wusste, was Werner vorhatte. »Sag du es mir.«
    »Steig ein.«
    Während der Fahrt hatte Jonas kein gutes Gefühl.
    Ich will nie mehr kein gutes Gefühl haben, dachte er. Ich möchte wenigstens einen Tag so sein wie die anderen. Sehen, was sie sehen, empfinden, was sie empfinden, mögen, was sie mögen, nicht allein auf meiner Seite stehen.
    »Ich muss das tun, das weißt du«, sagte Werner.
    »Nein, das weiß ich nicht. Willst du nicht warten, bis du so alt bist, dass du sowieso in so einem Ding rumgeschoben wirst? Die Piste läuft dir nicht davon, die wird immer hier sein, auch in siebzig Jahren noch.«
    »Heutzutage kann man sich auf Straßen nicht mehr verlassen. Außerdem will ich es jetzt wissen.«
    »Neugier bringt die Katze um.«
    »Was ist los mit dir? So kenne ich dich gar nicht.«
    »Ich habe …«
    »… kein gutes Gefühl bei der Sache? Aber ich muss das tun, ich will unbedingt wissen, wie sich das anfühlt.«
    »Ich weiß, wie sich das anfühlt! So toll ist es auch wieder nicht. Sei nicht kindisch.«
    »Natürlich bin ich kindisch, ich bin gern kindisch! Das ist doch nichts Neues.«
    Werner war erhitzt und fahrig und beinahe aggressiv. Jonas konnte sich nicht erinnern, ihn schon einmal so gesehen zu haben.
    »Werner, hast du irgendwas genommen? Dich zufällig mit Harry getroffen? Wollen wir nicht lieber den Schweinen einen Besuch abstatten, was kiffen und Ruhe geben?«
    »Wir werden der Piste einen Besuch abstatten.«
    Jonas wusste, es war zwecklos. Er rätselte, was in Werner vorging, etwas war anders als sonst, er konnte nicht zu ihm durchdringen.
    Auf dem Hügel stellte Werner wie üblich den Wagen neben den gefällten Baumstämmen ab, wo es satt und beißend nach Holz roch und das einsame Klopfen eines Spechts zu hören war. Die Hände in den Hosentaschen, beobachtete Jonas schweigend Werners Vorbereitungen. Verzweifelt überlegte er, wie er Werner von seinem Vorhaben abbringen konnte, doch es fiel ihm nichts ein.
    »Keine großen letzten Worte?« fragte er, als Werner losrollte.
    »Nachher!« rief Werner.
    In diesen Sekunden war es, als zöge sich der Himmel über ihnen zusammen. Es schien dunkler zu werden. Die Vögel schienen nicht zu

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