Das größere Wunder: Roman
sagte sie. »Was tust du, wenn du weg bist?«
»Ich weiß es nicht genau. Ich glaube, ich suche etwas, aber nicht einmal darin bin ich mir sicher.«
»Was suchst du?«
»Keine Ahnung.«
»Das ist doch absurd!«
»Vielleicht so etwas wie eine Entschuldigung«, sagte er.
»Was für eine Entschuldigung?«
»Eine Entschuldigung dafür, dass die Menschen Menschen sind, oder was weiß ich. Ich kann es nicht sagen.«
»Jonas, das ist seltsam.«
»Ich finde es gar nicht seltsam. Spielt das überhaupt eine Rolle? Es ist, was es für mich ist. Ich erwarte nicht, dass dich meine Erklärungen befriedigen, aber ich habe keine besseren, und ich werde nichts ändern. So bin ich, so sind die Dinge.«
Sie schaute auf ihre Fingernägel. Sie waren himmelblau lackiert. Auf dem Handrücken hatte sie einen großen roten Fleck, den sie unentwegt kratzte.
»Ist das eine Allergie?«
»Keine Ahnung, was das ist«, sagte sie wütend. »Also, willst du das Baumhaus noch? Oder soll ich dir das Geld zurückgeben?«
Er fasste nach ihren Händen, sie waren eiskalt und feucht.
»Tic, schau mich an. Schau mich bitte an. Ich will dieses Baumhaus unbedingt, und ich will keinen Cent von dem Geld zurück. In einem Monat, wenn es warm genug für Ausflüge ist, bin ich wieder da, und dann zeige ich dir, wo es stehen soll. Möchtest du es noch bauen? Wenn nicht – das Geld kannst du auch so behalten.«
Sie sah ihn nicht an. Sie schwieg. Lange saßen sie wortlos einander gegenüber.
»Erklär es mir«, sagte sie. »Versuch es.«
Er rieb sich die Augen, sie tränten vom Zigarettenrauch, der vom Nachbartisch kam. Er setzte zu sprechen an, überlegte es sich wieder.
»Also?«
»Okay«, sagte er. »Du kaufst dir ein Ticket, du fährst zum Flughafen, du setzt dich ins Café und wirst versorgt. Du wechselst Geld, du gehst zur Toilette, du gehst in die Lounge und wirst versorgt. Du setzt dich ins Flugzeug und wirst versorgt. Du steigst aus – und darfst, kannst, sollst deine Wege gehen. Du bist, was du immer warst. Allein.«
Sie schüttelte den Kopf. Sie sagte nichts.
Er flog nach Uruguay, und zwar deshalb, weil ihn der Klang dieses Namens bereits als Kind fasziniert hatte, ebenso wie der der Hauptstadt. Montevideo, Uruguay. Ein fernes Geheimnis, eine Verlockung.
Von der Stadt selbst sah er nicht viel. Er las und dachte nach und sah fern, bis zu jenem Morgen, an dem ihm Osvaldo, der Rezeptionist, bei dem sich Jonas nach dem Weg zur nächsten Pizzeria erkundigte, freudestrahlend verkündete, dass er den Nachmittag nun doch freibekommen hatte.
»Das freut mich sehr für Sie«, sagte Jonas und fragte sich, was das mit seiner Pizza zu tun hatte.
»Wo werden denn Sie sein?« wollte Osvaldo wissen.
»Wo ich sein werde? Wann?«
»Na zur Sonnenfinsternis!«
»Es gibt eine Sonnenfinsternis?«
»Wissen Sie das etwa nicht? Wozu sind Sie denn nach Uruguay gekommen? Nehmen Sie eine Schutzbrille aus dem Ständer dort drüben! Wenn Sie ohne Brille in die Sonne schauen, erblinden Sie. Meinem Großonkel ist das im Jahr ’66 passiert, wir mussten ihm bis zu seinem Tod aus der Zeitung vorlesen, und wenn wir versehentlich etwas vom Wetterbericht sagten, bekam er sofort einen Wutanfall.«
»Was hatte er denn gegen den Wetterbericht?« fragte Jonas verwirrt.
»Na darin geht es doch auch immer um die Sonne. Sonnenstrahlen, Sonnenlicht, Sonnenschein, das durfte man alles nicht mehr sagen.«
Auf einen Ausflug hatte Jonas keine Lust, also fuhr er zu der angegebenen Zeit mit dem Lift nach oben und gesellte sich zu den ausgelassenen Hotelgästen, die auf der Dachterrasse eine Eklipsen-Party feierten. Eine Kapelle spielte, die meiste Zeit schief, ein Showdieb unterhielt die Paare an den Tischen, und eine große Digitaluhr zeigte den Countdown bis zur Totalität an.
»Hoffentlich hält das Wetter«, sagte der livrierte Barkeeper. »Alle, die zum Santa Lucia gefahren sind, dürften Pech haben, von Westen ziehen dichte Wolken auf. Gerade haben sie es durchgegeben. Bei uns sollte es sich gerade so ausgehen.«
Jonas nickte, bestellte einen Cocktail und schaute auf die fremde Stadt hinunter, die vor ihm lag. Der Himmel interessierte ihn wenig, bis zu jenem Moment, als kühler Wind aufkam, der Mondschatten auf ihn zuraste und gleich darauf Finsternis einsetzte.
Die Menschen ringsum machten Ah! und Oh!
Jonas sagte nichts.
Er nahm seine Schutzbrille ab und sah zur Sonne hoch. Ein heller Kranz um eine schwarze Scheibe.
Mein Gott, dachte er, Herr der
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