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Das größere Wunder: Roman

Das größere Wunder: Roman

Titel: Das größere Wunder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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Geschicke, Lenker der Welt, was ist das nur Gewaltiges.
    Hätte ihn jemand mit einer Waffe bedroht, er hätte mit den Schultern gezuckt. Wäre ein Kampfbomber im Tiefflug über das Hotel gedonnert, er hätte es nicht gemerkt. Erdbeben, Außerirdische, Überflutungen, nichts davon wäre in sein Bewusstsein gedrungen. Was da oben stattfand, war viel stärker als alle Erschütterungen der Erde. Das da oben: Unheimlich. Bedrohlich. Wunderschön. Größer als etwas so Lächerliches wie eine Menschheit.
    Minute um Minute verging. Minuten, unbezahlbar. Platinsekunden. Nicht von Menschen gemacht.
    Die Hunde heulten und kläfften, einem Kellner fiel ein Tablett mit vollen Sektgläsern herunter, eine alte Frau verschluckte ein zu großes Stück Käse und wurde von ihrem Nebenmann mit dem Heimlich-Handgriff gerettet. Die Blumen in den mächtigen Ziertöpfen schlossen ihre Blüten, und der Boden schimmerte silbrig.
    Neben ihm stürzte ein Hund vom Dach. Jonas bekam den Unfall mit, doch weder verstand er, wie es dazu gekommen war, noch interessierte es ihn, nicht einmal das Gezeter der Besitzerin drang an ihn heran, was gut für sie war, denn sonst hätte er sie wohl hinterhergeworfen.
    Er stand vor etwas Großem, er hatte das Gefühl, ein altes Geheimnis zu erkunden, dem Universum die Hand zu reichen, für flüchtige Minuten ein Wunder zu erleben, und zugleich erregte ihn der Gedanke, dass es da draußen womöglich eine Frau gab, die in diesem Moment sah, was er sah, deren Blick den seinen da oben kreuzte, die er lieben würde und die ihn lieben würde und die vielleicht in diesem einzigartigen Moment an ihn dachte so wie er an sie.
    Tic, das erkannte er mit letzter Deutlichkeit, war diese Frau nicht.
    Später hatte er oft versucht, seine Verlorenheit zu beschreiben, als dieses erste Mal die Sonne wiederkehrte und die Menschen rings um ihn, ihm so fern, erneut zu ihren Ohs und Ahs ansetzten. Marie musste er nichts erklären, ihr war es wie ihm gegangen. Er wusste, er würde diesem Ereignis nachfliegen, er würde wieder erleben wollen, was er gerade erlebt hatte, und er würde die ganze Welt absuchen nach Momenten wie diesen.
     
    Nach einigen Wochen in südamerikanischen Städten, Ortschaften und Bergdörfern kehrte er nach Norwegen zurück, wo er mit Tic eine Wanderung in den Wäldern um Østerdalen unternahm.
    »Gibt es so etwas wie Pfadfinder bei euch?« fragte er.
    »Klar, ich war drei Jahre dabei!«
    »Das heißt, du kannst einen Kompass bedienen?«
    »Wie tief willst du in diese Wälder rein?«
    »Lassen wir uns überraschen.«
    Nach einem halben Tag gelangten sie an eine alte Forststraße.
    »Merk dir diesen Punkt«, sagte er.
    »Okay, und weiter?«
    Sie wanderten noch zehn Minuten, bis sie zu einer freundlichen Lichtung mit Sträuchern und einer kleinen, sattgrünen Wiese kamen, die auf Jonas vertraut wirkte. Er warf seinen Rucksack ins Gras, drehte sich im Kreis und deutete schließlich auf einen Baum, der größer war als alle anderen und dessen Gattung er nicht kannte.
    »Was ist das für einer?«
    »Weiß ich auch nicht. Noch nie gesehen.«
    »Der ist es.«
    »Was?« rief Tic aus. »Hier? Wie stellst du dir das vor? Die Arbeiter müssen das ganze Baumaterial irgendwie hierher befördern!«
    »Da hinten war eine Straße. Und die paar Minuten zu Fuß schaffen sie schon.«
    »Ist das dein Ernst?«
    »Drei oder vier Stockwerke. Das schönste Baumhaus der Welt. Du wirst es mir bauen. Versprichst du es mir?«
    Sie senkte den Kopf und nickte.
    Er umarmte sie.
    »Es tut mir leid«, raunte er in ihr Haar, das verschwitzt war und kaum noch nach ihrem blumigen Shampoo roch.
    »Ist schon okay«, sagte sie. »Du kannst ja nichts dafür.«
    Während Tic umherstreifte und Fotos machte, ging er zu dem Baumriesen und betrachtete ihn aus der Nähe. Als er ihn das erste Mal berührte, schloss er die Augen.
    Du bist es. An dich werde ich denken. Dort und dort und dort.
     
    Von Oslo flog er nach Gabun. Dort setzte er sich in einen Bus, der keine Stoßdämpfer und keine Türen hatte und dessen Zielort ihm unbekannt war. Er fragte nicht nach und landete in einem staubigen Dorf, in dem mehr Uniformierte als Zivilisten herumliefen. Er fand eine Unterkunft, bekam einen Fieberschub, fuhr zwei Tage später weiter, von Stadt zu Stadt, von Ort zu Ort. Er überquerte Staatsgrenzen, indem er die Beamten bestach, und fand sich irgendwann in Harare wieder. Er blieb eine Woche, versteckte unter dem Holzboden seines Hotelzimmers Nachrichten an sich

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