Das größere Wunder: Roman
nicht, wie ich es besser erklären soll. Und ich bin es vielleicht manchmal für dich. Das führt zu Spannung. Meist ist es gute Spannung.«
Zu weiteren Erläuterungen war sie nicht bereit. Er dachte darüber nach, was sie gesagt hatte, bis sie am Bahnhof ankamen.
Sie setzten sich auf die verfallene Holzbank. Er betrachtete den Waggon, der nun schon einige Jahre hier stand. Marie lehnte sich zurück, rollte ihr T-Shirt bis über den Nabel hoch, beschattete die Augen mit den Händen und sah sich um.
»Was willst du mir hier zeigen?«
»Das ist es schon.«
»Aha. Irgendetwas Spezielles?«
»Vielleicht.«
»Okay.«
Einige Zeit blickte sie in die Landschaft, schaute den Waggon an, verfolgte den Flug eines Schwalbenschwarms am Himmel. Sie schloss die Augen und reckte das Gesicht der Sonne entgegen. Er lehnte sich ebenfalls zurück, strich über ihr Haar und sah zu, wie eine Fliege sie belästigte, indem sie sich immer wieder auf ihrem Bauch niederließ.
Neuseeländischer Waggon. Totes Gleis. Grillen zirpen, Wespen summen. Marie neben mir. Alles ruhig. Alles gut.
Er öffnete die Flasche Wein, die er mitgebracht hatte, und probierte. Marie tippte ihm mit geschlossenen Augen auf die Schulter.
»Du willst die doch wohl nicht allein trinken?«
»Ich dachte, du liegst da und genießt die Sonne und döst vor dich hin.«
»Und deshalb trinke ich nicht mit?«
Sie setzte sich auf. Er hielt ihr die Flasche hin. Sie nahm einen Schluck, nickte, trank noch zwei.
»Erkennst du den Wein?« fragte er.
»Nein, sollte ich?«
»So einen hat uns damals Salvo mitgegeben.«
»Stimmt, der war das.«
Sie küsste ihn flüchtig auf die Wange.
»Denkst du oft an Rom?« fragte er.
»An die Nacht mit dir in der Wohnung? Oft.«
»Ich auch. Das war schön.«
»O ja, das war es.«
»Schön ist es mit dir.«
Jonas küsste sie und legte ihren Kopf gegen seine Schulter. Er betrachtete den Waggon. Die Sonne blendete ihn, er zwinkerte.
Irgendetwas stimmte nicht.
Einige Wochen darauf besuchte er Tanaka. Nachdem sie Neuigkeiten über die vergangenen Monate ausgetauscht und alles Geschäftliche besprochen hatten, fragte Jonas:
»Können Sie den Waggon an dieselbe Stelle zurückbefördern, an der ich ihn das erste Mal gesehen habe?«
»Ihre Wünsche sind immer wieder reizvoll«, sagte Tanaka.
»Können Sie das?«
»Ich denke schon.«
An diesem Abend blieb Jonas bis weit nach Mitternacht bei Tanaka, und auch an den Tagen darauf ging er lange aus. Marie war wieder in ihre Parallelwelt abgeglitten, und seine Konversation mit ihr erschöpfte sich in Banalitäten über die Säumigkeit der Müllabfuhr und die Stärke des letzten Erdstoßes. Wären ihre Körper nicht gewesen, die sich immer wieder einander näherten, egal von welchen Gemütszuständen sie gerade dominiert wurden, hätte sich Jonas womöglich mehr Sorgen gemacht. Doch diese Art von Kommunikation zwischen ihnen funktionierte immer.
Oft erwachte er mitten in der Nacht, weil er in Marie war. Er wusste meist nicht einmal, wer angefangen hatte. Sie schliefen miteinander, ohne selbst viel beitragen zu müssen, als würden ihre Körper über ein eigenes Lustgedächtnis verfügen. Manchmal erwachte er in einem befreienden Orgasmus, öffnete die Augen und sah Marie über sich. Manchmal erwachte er, sah Marie sich unter ihm winden und wusste, dass sie gerade nicht da war, dass sie gerade schlief, dass sie weit weg war, nämlich da, wo auch er gerade noch gewesen war.
Neuseeland hatte sie immer schon sehen wollen, und er musste sie nicht lange überreden. Sie unterbrach sogar ihre Arbeit, und als sie in Auckland ins Auto stiegen, wirkte sie so entspannt, dass er beschloss, sie an diesem Tag zu fragen.
Als hätte er kein bestimmtes Ziel, fuhr er über die Landstraße. Einmal hielten sie, um zu essen, einmal tranken sie Kaffee, zwischendurch schlief Marie, die vom Flug müde war, in einer Hängematte, die im Garten eines Inns vor einem Hühnerstall ausgespannt worden war, während er in der Wiese lag, den Straßengeräuschen zuhörte und vierblättrige Kleeblätter suchte.
Der Bahnhof war genauso verlassen wie damals. Jonas sagte gar nichts, er hielt vor dem Gebäude, holte eine Flasche Wein aus der Einkaufstasche auf dem Rücksitz und fasste Marie an der Hand.
Am Bahngleis setzte er sich auf eine Bank. Es war dieselbe wie beim letzten Mal. Er schraubte die Flasche auf und betrachtete mit Gänsehaut den Waggon, der nun wieder hier stand, so wie damals.
Na, warst du im
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