Das größere Wunder: Roman
Urlaub? dachte er. Jetzt bist du wieder zu Hause. Hat es dir gefallen? Und wie geht es jetzt? Jetlag? Wie ist das Wetter so?
Weißt du noch, wer ich bin?
Marie setzte sich neben ihn. Sie warf einen Blick auf den Waggon, stutzte, schaute genauer hin, schaute lange hin. Sah Jonas von der Seite an, noch länger.
»So etwas wie dich hat es noch nie gegeben und wird es nie wieder geben«, sagte sie.
»Das trifft auf alle Leute zu.«
»Auf dich besonders.«
»Na ja.«
»Einmal in diesen Kopf hineinschauen können.«
Sie schienen in einen Vogelgarten geraten zu sein, denn rund um sie wurde wild und vielstimmig gezwitschert. Autos waren keine zu hören, und es war windstill und heiß.
»Ich muss dich was fragen«, sagte er.
Sie blieb still, und so fragte er.
»Ach, Jonas«, sagte sie.
Er wartete. Es kam nichts.
»Ist das deine Antwort? Ach, Jonas?«
Sie schwieg noch immer.
»Mit etwas mehr Enthusiasmus hätte ich schon gerechnet«, sagte er, sich um einen ungezwungenen Ton bemühend.
»Jonas, glaubst du, ich habe darüber noch nie nachgedacht? Aber Kinder zu bekommen ist wohl die größte Entscheidung, die man treffen kann.«
Sie sagte nichts mehr, und er sagte auch nichts mehr. Er war enttäuscht und verwirrt. Er hatte eher damit gerechnet, dass sie ihm um den Hals fallen und sich an Ort und Stelle daranmachen würde, das Vorhaben in die Tat umzusetzen.
Er nahm die Flasche und ging zum Auto, um die Windschutzscheibe von Vogeldreck und toten Mücken zu reinigen. Statt mit Wasser tränkte er den Schwamm mit Wein. Marie blieb sitzen. Die Vögel sangen nicht, sie schrien. Aufdringlich. Am liebsten hätte er sie heruntergeschossen.
Auf dieser Bank am aufgelassenen Bahnhof in Neuseeland, vor dem Waggon, der jahrelang im Nichts gestanden war und dann jahrelang im Nichts auf der anderen Seite der Weltkugel, um dann wieder zu Hause im Nichts zu stehen, hier hatte etwas begonnen. Vermutlich war es schon vorher dagewesen, aber begonnen hatte es für ihn hier.
Er drang immer seltener zu ihr durch. Sie schien vor etwas zurückzuschrecken, etwas arbeitete in ihr, es war keine gute Zeit für sie. Doch jedes Mal, wenn er nachhakte, antwortete sie ihm ausweichend. Nur einmal sagte sie etwas, das ihm zu denken gab, sie sagte: »Du bist so groß, du bist wie ein uralter Baum. Manchmal habe ich Angst um mich.« Und ein paar Minuten darauf: »Vielleicht liegt es daran, dass ich vor dir noch nie eine richtige Beziehung hatte. Ich bin Alleinsein gewöhnt.«
Von diesem Zeitpunkt an war Jonas alarmiert. Aber egal, wie sehr er es versuchte, in ihrem Kopf schien sich ein Gedankengang verselbständigt zu haben. Weder er noch sie konnte ihn besiegen.
Während sie Musik machte oder Musik hörte oder einfach nur im Bett lag und las oder in einem Teehaus saß und schrieb, hockte er Kat kauend in einem jemenitischen Dorf, umgeben von Einheimischen, eine Kalaschnikow neben sich wie fast jeder hier und ein Satellitentelefon, das nicht läutete, und fragte sich, ob er zuviel gewollt hatte.
In Tokio brach die Katastrophe über ihn herein. An einem Dienstag, das wusste er noch, er trank Tee aus der gelben Tasse, im Fernsehen lief eine brutale Gameshow, der Müll stank nach dem Sushi, das er für sie beide am Vortag bestellt hatte.
Sie ging. Sie sagte, sie müsse gehen, um ihretwillen, um sich zu finden oder neu zu verlieren oder wie auch immer, um Platz zu haben für sich selbst, und vielleicht käme sie dann wieder, er solle sich nicht melden, wenn das möglich wäre, sie würde es tun, wenn sie soweit wäre. Er verstand nur wenig von dem, was hinter ihren Haaren, die nach Rotwein und Zigarettenasche rochen, am Küchentisch geschluchzt wurde, er hörte nur: Ich gehe.
Das Erwachen am nächsten Tag, mit diesem ersten Gedanken im Kopf: SIE IST WEG, war wie ein Sturz ins Bodenlose.
In den ersten Tagen nach ihrem Verschwinden beschäftigte ihn vor allem der Gedanke, wie er diese Nachricht Zach beibringen sollte.
Und sie waren alle enttäuscht. Sie waren enttäuscht, und er war nicht mehr derselbe. Kein Autounfall, keine Todesgefahr unter Riesenwellen, kein jahrelanges Versinken im Nichts einer Wohnung hatten anrichten können, was ein paar Sätze angerichtet hatten. In ihm war etwas zerbrochen, das den Ausgleich geschaffen hatte zwischen Ordnung und Chaos, zwischen übermäßigem Antrieb und Passivität, zwischen Obsession und Gleichgültigkeit, zwischen Optimismus und Verzweiflung, zwischen alter und neuer Zeit.
Er
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