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Das größere Wunder: Roman

Das größere Wunder: Roman

Titel: Das größere Wunder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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verlorengegangen war.
    Von Oslo flog er nach London. Im Fabric traf er Helen wieder, mit der er vor vielen Jahren ein paar Mal nach Hause gegangen war, und unterschrieb am nächsten Morgen an ihrem Küchentisch den Vertrag für den Everest, ohne auch nur eine Sekunde nachzudenken.
    Er machte einen Sanitäterkurs und begann, ehrenamtliche Dienste in Obdachlosenheimen und in Vereinen zu leisten, die für die Betreuung in Not geratener Kinder zuständig waren. Er besuchte Spitalszimmer, in denen er an Mike denken musste und wo Kinder lagen, die Stunden zuvor vom Vater vergewaltigt und von der Polizei hierhergebracht worden waren. Mit diesen Kindern zu reden, das war seine Aufgabe. Er lernte schnell, dass er, um etwas zu erreichen, auch etwas von sich preisgeben musste.
    Was er in diesen Zimmern erlebte, brachte ihn weiter an seine Grenzen, als ihm lieb war. Aber es gab ihm Mittel in die Hand, mit seinem Kummer umzugehen, der gleichzeitig um nichts schwächer wurde.
    Er fuhr nach Hause, wo ihn Zach am Bahnhof erwartete. Er sperrte sich in seinem Zimmer ein, setzte sich aufs Bett und dachte: Hier war sie. Hier saß sie. Mit ihrem Notizbuch und ihrem Laptop und ihrem iPod. Hier sprach sie mit mir. Mit diesem Tattoo auf dem Arm, mit diesem hier. Es war ein Jetzt. Nun Teil eines Damals.

51
     
    Am Morgen kam Jonas kaum hoch, als ihn Mingma weckte.
    »Noch zehn Minuten«, bettelte er, »noch fünf Minuten!«
    Mingma, einer der ernsteren unter den Sherpas im Team, war unerbittlich. Er rüttelte Jonas unentwegt, dazu kam die schneidend kalte Luft, die ins Zelt strömte, sodass Jonas irgendwann seinen Widerstand aufgab und sich anzuziehen begann.
    Es war bereits hell, was ihn überraschte. Als er auf die Uhr schaute, stellte er fest, dass sie stehengeblieben war. Draußen begegnete er Carla, die rund um ihr Zelt durch den Schnee stapfte und im Gehen das Frühstück hinunterwürgte.
    »Sehr vorbildlich«, lobte er.
    Sie sagte nichts, sondern wies mit einem schadenfrohen Grinsen auf Mingma, der Jonas eine Portion Porridge brachte. Beinahe hätte Jonas den Teller den Gletscher hinabgeschleudert. In Erinnerung an die mahnenden Worte seines Expeditionsleiters bemühte er sich, den seltsam aussehenden Eintopf in seinen Magen zu befördern.
    »Alles hätte der Bursche werden sollen, nur nicht Koch«, sagte Carla.
    »Was bringt dich auf den Gedanken, er sei Koch?«
    »Gute Frage. So. O mein Gott.« Sie warf ihren leeren Teller in den Schnee. »Jonas, kannst du heute ein Auge auf mich haben? Irgendetwas stimmt nicht mit mir.«
    »Was ist denn los?«
    »Mir ist schwindlig, und meine Koordination ist nicht, wie sie sein sollte.«
    »Das hört sich aber nicht gut an.«
    »Ich hatte Schwierigkeiten, einen Reißverschluss zuzumachen. Solche Sachen.«
    »Hast du mit Hadan geredet?«
    »Bin ich blöd? Der schickt mich doch sofort runter! Was denkst du, warum ich dich bitte? Wenn Ennio und du auf mich aufpassen, wird es schon gehen.«
    Jonas hielt sich nicht für jemanden, der gute Ratschläge verteilen sollte, und nickte nur. Von da an hielt er sich in Carlas Nähe, bereit, jederzeit einzugreifen, und in der festen Überzeugung, er würde, wenn es darauf ankäme, restlos überfordert sein.
    Der erste Teil des Weges zu Lager 3 war anstrengend, aber sowohl die Strapazen als auch die Gefahren hier waren nicht mit jenen weiter oben vergleichbar. Auf dem letzten Eisfeld vor der Lhotse-Flanke, wo alle ihre Klettergurte richteten und die Eispickel von den Rucksäcken schnallten, fragte Jonas bei Carla nach, wie sie sich fühlte.
    »Relativ unverändert«, lautete die Antwort. »Das sollte eigentlich ein gutes Zeichen sein. Dass es mir nicht schlechter geht. Wäre etwas mit mir wirklich nicht in Ordnung, würde es mir doch immer schlechter gehen, oder?«
    »Da bin ich überfragt. Klingt logisch, aber willst du nicht trotzdem mal mit Hadan reden?«
    »Sicher nicht. Wann findet eigentlich die Sonnenfinsternis statt? Bald, oder? Sind wir da auf dem Berg?«
    »In vier Tagen«, sagte Hadan, der plötzlich vor ihnen stand, »und da werden wir wahrscheinlich sogar wieder hier sein. Wie geht es euch, kommt ihr zurecht?«
    »Alles bestens«, sagte Jonas und war gespannt auf Carlas Antwort.
    »Perfekt«, sagte sie.
    »Dann lasst uns mal ein wenig eisklettern, würde ich sagen.«
    »Hadan, wie geht es Marc?«
    »Hat ein paar Nägel im Bein und redet schon wieder von den Krankenschwestern.«
    Das war eine aufmunternde Nachricht, und Jonas nahm die Wand, die ihm

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