Das größere Wunder: Roman
dämmerte durch die Welt. An manchen Tagen war er im wörtlichen Sinn außer sich. Er sah sich, wie er mit einem vierzig Kilogramm schweren Rucksack auf dem Rücken tagelang die Treppen eines Wolkenkratzers hoch- und wieder hinunterlief, er sah sich selbst wochenlang zu, wie er den Aconcagua bestieg, er sah sich von Moskau bis Wladiwostok in der Transsibirischen Eisenbahn sitzen, dieselbe Sonne über sich, die auch über Marie leuchtete. Er sah sich in Nazaré auf einer Welle surfen, die viel zu groß und mächtig für ihn war, doch er hatte Glück. Er sah sich in Prypjat in seiner Wohnung von damals übernachten, den Zettel von damals lesen, auf seinen Geigerzähler starren, und er war dabei, als er sich in New York und Chicago herumtrieb und einmal eine ganze Woche lang nicht schlief, bis er sich benommen in einem dreckigen Hinterhof wiederfand, die Bisswunde eines Hundes in der Wade.
Danach nahm er sich zusammen. Seine Vorstellung von Selbstachtung vertrug sich nicht mit solchen Eskapaden. Er war es leid, ein jämmerliches Bild abzugeben, und traf sich mit Zach in Berlin. Berlin war zwar kein Ort, an dem man sich mit Liebesschmerzen aufhalten sollte, doch neben einem Kraftwerk wie Zach fühlte man sich niemals schwach, im Gegenteil, in Zachs Gegenwart hatte jeder das Gefühl, das Leben würde nie enden.
Er meldete sein Mobiltelefon ab und sperrte sich in Rom in seiner Wohnung ein. Ohne Zach ging es ihm noch schlechter als davor, zudem musste er ständig an jenen Abend mit Marie denken, den sie hier verbracht hatten, und so floh er nach vier Tagen zu Salvo, dessen Laden er regelrecht belagerte. Er schrieb Postkarten an Menschen, die er nicht kannte und deren Adressen er aus dem Telefonbuch herausschrieb, aber auch an Salvo, obwohl der ihm gegenübersaß, und an Irene, die Frau, die ihm sein erstes Ticket nach Rom verkauft und die er nie wieder gesehen hatte, mit der ihn jedoch schon seit Jahren diese einseitige Kommunikation verband.
»Willst du dich nicht ins Bett legen, mein Schöner?«
»Salvo, ich bin nicht müde.«
»Du siehst aber so aus.«
»Ansichtssache. Wer ist der Kerl und was will er?«
Jonas deutete auf einen jungen Mann im Anzug, der mit einem Kugelschreiber auf die Theke trommelte und schlechter Laune zu sein schien.
»Der? Das ist offenbar der Laufbursche dieses Schauspielers.«
»Welches Schauspielers?«
»Ach, irgendein Fatzke vom Film steht draußen und glaubt, dass ich meinen Laden für ihn und seine Leute räume. Er hat von mir gehört und will bewirtet werden.«
»Und was hast du geantwortet?«
»Dass er sich ins Knie ficken soll.«
Jonas ging zur Tür und schaute hinaus. Umgeben von einigen jungen Frauen und zwei vierschrötigen Kerlen stand vor dem Lokal Jack Nicholson.
»Salvo, den kennt man wirklich«, sagte Jonas.
»Würdest du ihn reinlassen?«
»Ihn schon. Den Rest nicht.«
»Na siehst du.«
Jonas schaute noch einmal hinaus. In diesem Moment verstand er, warum irgendein Taugenichts, dessen Leben von Anfang an gescheitert war, auf den Gedanken kommen konnte, jemanden wie den Mann da draußen zu ermorden, um den eigenen Namen an die Berühmtheit seines Opfers zu binden. Sinn, danach suchten alle, mehr als Sinn konnte man nicht finden.
Bei Shimon und Abigajil, die er im Haus einer Verwandten in Eilat besuchte, blieb er zehn Tage. Sie erinnerten ihn daran, dass es, um Gutes zu tun, nicht genügte, Geld zu überweisen, sondern man musste sich als Mensch einbringen, mit allem, was man war und was man hatte.
Er wohnte eine Woche bei José in Barcelona, half ihm bei der Wohnungsrenovierung, unternahm mit ihm ein paar kleinere Touren in den Pyrenäen und überredete ihn dann, mit nach Moi zu kommen. Dort lagen sie wochenlang in der Sonne, mixten Cocktails, tauchten, unternahmen mit den Jetskis Ausflüge, hörten im Ruderboot Musik, die aus seinen neuen, für ihn eigens angefertigten Kharma Grand Enigma-Boxen drang, und genossen die ungeheure Tatsache, die einzigen Menschen im Umkreis von mindestens siebzig Seemeilen zu sein. Es ging ihm nicht schlecht. Er durfte sich nur nicht fragen, wo sie gerade war.
Danach besuchte er Tic in Oslo. Tagsüber saß er in seinem Museum, dem er den inzwischen eingeschweißten Zettel aus Prypjat hinzufügte. Er betrachtete in Ruhe seine Sammlung und ließ anhand der Inventarstücke sein Leben der vergangenen Jahre an sich vorbeiziehen.
Abends gingen sie aus, nachts bemühte er sich vergeblich, etwas wiederzufinden, das woanders
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