Das größere Wunder: Roman
so weitergeht, hängen wir die ganze Nacht in dieser Wand, und darauf habe ich keine Lust. Zwei Seillängen unter uns gibt es Probleme, Eva hat Krämpfe. Ich würde gern herausfinden, ob es eine Chance gibt, bald ins Lager zu kommen, oder ob ich sie besser nach unten schicke.«
»Und deshalb kletterst du hier die Wand hoch? Hast du mal nach unten gesehen?«
Hadan schaute in die Tiefe. »Wunderbar, ja. Wegen dieser Aussicht nehmen wir all die Strapazen doch in Kauf, oder?«
»Darf ich dich darauf aufmerksam machen, dass du ohne Sicherung unterwegs bist? Bist du lebensmüde?«
»Lebensmüde? Ich? Ich sollte dir das eigentlich nicht sagen, aber da, wo ich bin, ist es sicherer als da, wo du bist.«
»Wie kommst du denn auf diesen Unfug? Ich hänge am Seil, du nicht.«
»Eben.«
»Eben? Wieso?«
»Heb mal den Kopf und zähle all die Menschen, die an diesem Seil hängen. Dieses Seil ist an einer einzigen Eisschraube befestigt. Was haben wir besprochen? Wartet ab, habe ich euch gesagt, hängt euch nicht als zehnte an so ein Seil, es könnte noch vom Vorjahr sein. Nicht alle Fixseile in der Wand sind neu. Man nimmt, was man kriegen kann. Weißt du, was so ein Seil kostet?«
Jonas starrte auf den Sicherungsstrick um seine Hüften, an dessen Ende der Karabiner mit dem Fixseil verbunden war.
»Machst du Witze?«
»Hast du mich lachen sehen? Aber ihr seid alle sehr gut versichert. Ich sage das nur, weil mich die Prämie eine Stange Geld gekostet hat.«
»Das beruhigt mich aber, danke.«
»Das jetzt war ein Witz. Beim nächsten Übergang lässt du dir trotzdem Zeit und wartest, bis es über dir ruhiger geworden ist.«
»Da werden sie mich von hinten pieksen.«
»Niemand wird dich pieksen. Und sollte jemand pieksen, mach’s wie Carla. Das war äußerst effizient.«
Jonas schaute nach unten. Tatsächlich hatte sich der Gelbe gut zehn Meter abgeseilt, um Abstand zwischen Carla und sich zu bringen.
»Der kommt euch bestimmt nicht mehr zu nahe, das heißt, ihr kriegt auch von hinten nicht zuviel Gewicht an euer Seil.«
»Ich werd’s mir merken.«
»Ach ja, bitte in Lager 3 noch keinen künstlichen Sauerstoff verwenden, wir haben ein kleines Vorratsproblem, es wurde einiges geklaut. Bis später.«
Jonas wusste nicht, worüber er mehr staunen sollte, über die Geschwindigkeit oder über die Eleganz, mit der sich sein Expeditionsleiter die Wand hocharbeitete. Binnen weniger Minuten war er nur noch ein kleiner Punkt, der dem Himmel zustrebte.
»Hadan ist ein wunderschöner Bergsteiger«, schwärmte Lobsang.
»Hast du eben wunderschön gesagt? Er ist ein wunderschöner Bergsteiger?«
»Das ist er. Er klettert wunderschön! Und man merkt, dass er das will. Ihm liegt etwas daran, schön zu klettern.«
»Hast du mitgekriegt, was er über die Seile gesagt hat? Stimmt das?«
»Klar stimmt das.«
»Und wieso sagst du mir das nicht?«
»Weil es egal ist. Wenn da oben jemand stürzt und das Fixseil aus der Verankerung gerissen wird, poltern so viele Leute durch die Wand, dass es keine Rolle spielt, ob du da drüben oder hier kletterst. Entweder wir sterben mit den Zacken afrikanischer Steigeisen im Kopf, oder wir werden von einem Beinamputierten zerschmettert.«
»Lobsang, du hast eine ganz schön komische Art, einen zu motivieren.«
Der Sherpa sandte noch einige hämische Kommentare nach oben, doch Jonas hatte nach der langen Unterhaltung schlicht keine Luft mehr. Er beschloss, das Seil und alle anderen Gefahren weiterhin zu ignorieren, und kletterte wieder los, das Denken bewusst auf das Nötigste reduziert.
Steigen. Pickel in die Wand, Fuß in die Wand. Wieder ein Meter. Noch einer. Noch einer.
Irgendwann wirst du ganz oben sein.
Aber was machst du dann? Außer wieder runtergehen und noch immer du sein?
52
In Lager 3, mitten in der Lhotse-Wand, waren die Verhältnisse so beengt, dass sich Jonas mit Nina und Manuel ein Zelt teilen musste. Ihn kümmerte es nicht, er wollte nur mehr daliegen und die Augen schließen. Er fühlte Arme und Beine und vor allem seine Hände kaum, er hatte Wadenkrämpfe und war so abgekämpft, dass er sich auch in ein Rattennest oder einen Ameisenhaufen gelegt hätte. Hauptsache liegen. Hauptsache nicht bewegen. Vielleicht sogar schlafen. Aber wie, ohne Luft?
Manuel hatte Schweißfüße, Nina roch ebenfalls scharf nach Schweiß. An sich selbst konnte Jonas keinen Geruch feststellen, doch er fühlte ein grässliches Stechen im Kopf, von den Rippenschmerzen gar nicht zu reden.
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