Das größere Wunder: Roman
der Friede zur Göttinnenmutter zurückgekehrt ist.«
Jonas schenkte der Alten einen dankbaren Blick und prägte sich ihr Gesicht ein. Er verbeugte sich knapp und sagte:
»Om mani padme hum.«
Er hörte noch den Segensspruch, den sie ihm hinterherschickte. Er schloss die Augen, dachte an die alte Frau und sprach für sie ein kurzes Gebet.
Marie hatte ihn einst gefragt, ob er betete, nach dem Zwischenfall mit dem Flugzeug in Mexiko, an den genauen Ort erinnerte er sich nicht, er erinnerte sich nur noch an das Gespräch.
»Ich weiß nicht, ob ich an Gott glaube«, hatte er geantwortet.
»Danach habe ich nicht gefragt. Ich habe gefragt, ob du betest.«
»Ja«, sagte er nach einigem Zögern. »Man tut so manches, das man nicht versteht.«
»Was verstehst du daran nicht?«
»Alles. Ich weiß nicht, an wen ich meine Gebete richte, ich weiß nicht, ob sie jemand hört, ich weiß nicht, ob mir der, der sie vielleicht hört, überhaupt wohlgesinnt ist, und doch setze ich mich manchmal hin und denke an einen Menschen, der mir teuer war oder ist, und schicke ihm meinen Segen oder gute Energie oder wie immer man das nennt.«
»Ist doch schön, was du machst«, hatte Marie gesagt. »Das mache ich auch. Sollten alle.«
»Ich komme mir aber blöd vor, davon zu sprechen.«
»Ich weiß, mein Herz. Die Menschen kommen sich oft blöd vor, wenn sie sich anständig benehmen.«
Vor dem Internetcafé, wie das Zelt genannt wurde, in dem man an drei Laptops online gehen und dazu heißen Tee oder bitteren Kaffee trinken konnte, traf er Nina, die kecke Sportstudentin aus seinem Team, mit der er im Rum Doodle in Kathmandu eine Nacht lang getanzt und gegen die er am Tag darauf zehn Partien Backgammon in Folge verloren hatte. Auf dem Treck ins Basislager hatten sie einander für eine Weile aus den Augen verloren. Sie stand bei Carla, der Römerin, und teilte sich mit ihr eine Zigarette.
»Hast du das von den Franzosen gehört?« fragte sie.
»Nicht nur das. Ich weiß auch, dass es hier Leute gibt, die ernsthaft Wetten darauf abgeschlossen haben, ob und wie viele von denen überleben.«
»Wem fällt denn so etwas ein?« fragte Carla.
»Ein paar der Serben. Der eine muss dem anderen hundert Euro für jeden Franzosen zahlen, der es zurück ins Basislager schafft. Zwei andere haben eine Wette über Körperteile laufen, die amputiert werden müssen.«
»Was ist denn denen schon alles amputiert worden?«
»Sie machen aber auch vor sich selbst nicht halt. Soweit ich sie verstanden habe, muss jeder von ihnen, der ein Fingerglied oder mehr einbüßt, einen Hunderter in die Kaffeekasse stecken. Eine ganze Hand kostet fünfhundert …«
»Können wir bitte das Thema wechseln?« fragte Nina. »Lust auf eine Partie Backgammon?«
»Später vielleicht.« Jonas wies auf das Zelt. »Wartet ihr?«
»Ich nicht«, sagte Carla. »Mir schreibt sowieso kein Mensch, und was in der Welt passiert, interessiert mich im Moment überhaupt nicht.«
»Ja und nein«, sagte Nina. »Radek hatte etwas dagegen, dass ich zum Everest gehe. Sind nicht die angenehmsten Mails, die derzeit kommen. Kannst vor mir rein. Lass dir ruhig Zeit. Surf ein bisschen rum, ja?«
Er rief seine Mails zum ersten Mal seit Kathmandu ab. Tic schrieb, sie hätte einige Reparaturen im Baumhaus erledigt, Salvo erkundigte sich, wann sich Jonas wieder in seinem Lokal einsperren lassen wollte, und Shimon fragte, ob Jonas noch am Leben war.
Zwei von Tanaka. Alles sei in bester Ordnung, wo sich Jonas gerade aufhalte? Und ja, die Lieferung für Oslo war eingetroffen.
Einige weitere E-Mails von Freunden. Ein paar wollten wissen, wo er zur Sonnenfinsternis sein würde. Marie erwähnte keiner von ihnen. Sie waren taktvoll. Dass von ihr selbst keine E-Mail dabei war, hatte er auf den ersten Blick gesehen. Diesen Blick beherrschte er, wider Willen hatte er ihn trainiert.
12
»Was hältst du von Telepathie?« fragte Werner.
»Interessant«, sagte Jonas.
»Glaubst du daran?«
»Weiß nicht. Für möglich halte ich fast alles.«
»Mal ausprobiert?«
»Nicht ernsthaft. Du?«
»Nein, aber ich würde gern.«
Jonas schob das Glas bitteren Orangensaft, das ihm Regina aufgedrängt hatte, zur Seite und setzte sich auf dem wackeligen Holzstuhl in der Küche zurecht.
»Geht los«, sagte er. »Denk an eine Zahl zwischen 1 und 10.«
»Hab schon.«
Jonas schloss die Augen und machte seinen Geist leicht und frei, wie er es beim Chi Sao gelernt hatte.
»Sieben«, sagte
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