Das größere Wunder: Roman
watschelte.
»Allerdings.«
»Wie alt seid ihr drei denn?«
»Bald sechzehn. Und du?«
»Bald siebzehn. In welche Schule geht ihr?«
»In keine«, sagte Werner.
»Ihr arbeitet doch noch nicht!«
»Nein, so war das nicht gemeint. Wir gehen nicht zur Schule, die Schule kommt zu uns.«
»Kapier ich nicht. Kriegt ihr Privatunterricht oder was?«
»So ungefähr.«
Irritiert blickte sie vom einen zum anderen. Gerade als Jonas zu einer Erklärung ansetzte, lachte sie auf.
»Ihr wohnt doch nicht etwa da oben in diesem Riesenkasten?«
»Doch, warum?«
»Das ist sehr komisch! Ich hätte euch gleich erkennen müssen!«
»Jetzt beruhig dich mal und erklär uns, wieso du lachst!«
»Na, als ich vorigen Monat hergezogen bin – hergezogen worden bin, kann man sagen, denn ich hätte mich lieber vierteilen lassen, als von Kiel weg- und ausgerechnet hierher zu gehen –, habe ich mich mal umgesehen, wohin es mich verschlagen hat. Und als allererstes erzählten mir die in der Schule von den zwei Freaks, die mit dem be… sorry, die mit dem Bruder von dem einen in diesem Schloss da oben wohnen, und der Vater von ihnen ist ein Pate wie im Mafiafilm. Also ihr seid das! Kommt deshalb die Schule zu euch? Werdet ihr in Limousinen mit verdunkelten Scheiben durch die Gegend gefahren?«
Jonas und Werner wechselten einen Blick.
»Ich weiß nicht, was du gehört hast«, sagte Werner langsam. »Aber den Unsinn mit dem Paten kannst du gleich vergessen. Das mit den Freaks stimmt teilweise. Das hier ist einer, er trinkt zum Vergnügen Olivenöl.«
»Von Vergnügen kann gar keine Rede sein, also bitte …«
»Dann verrate mir doch endlich, was der Schwachsinn sollte!«
»Das kann ich nicht.«
»Kannst du nicht? Willst du nicht!«
»Mir ist sowieso egal, was die gesagt haben«, unterbrach Vera die beiden. »Nach den vier Wochen weiß ich so ungefähr, wer hier die wahren Freaks sind. Mich wundert ja, dass die nicht auf Traktoren zur Schule kommen und Heugabeln im Gepäck haben.«
»So schlimm ist es nicht«, sagte Jonas. »Du wirst dich schon an die Leute gewöhnen.«
»Dafür sehe ich keinen Grund«, sagte Werner.
»Jonas heißt du, nicht wahr? Schöner Name.«
»Findest du?«
»Ja, sehr. Wieso heißt du so?«
»Das weiß ich nicht.«
»Das weißt du nicht? Hast du deine Eltern nicht gefragt? Wer fragt denn seine Eltern nicht, wieso er heißt, wie er heißt? Und was bedeutet der Name?«
»Das weiß ich genauso wenig.«
»Du weißt nicht, was dein Name bedeutet? Aber das muss dich doch kümmern! So ein Name ist wie ein Zeichen, das man mit sich herumträgt. Eines, das man nie los wird und das einen beeinflusst. Es ist ein Schubs in eine bestimmte Richtung, den man in seinen ersten Tagen versetzt bekommt.«
»So habe ich das noch nie betrachtet«, sagte Jonas und kam sich im selben Moment unglaublich dämlich vor.
»Ich mag Zeichen«, sagte sie. »Ich will mir ein Tattoo stechen lassen, ich weiß bloß noch nicht, was für ein Motiv.«
»Ein Tattoo?« fragte Werner. »Alle Leute mit einer Tätowierung, die ich kenne, waren mal im Gefängnis oder gehören da zumindest hin.«
»Eben drum. Meine Mutter fällt in Ohnmacht.«
»Weißt du zufällig, was der Name Werner bedeutet?« fragte Werner.
»Der bedeutet, dass deinen Eltern wirklich gar nichts eingefallen ist. Mein Name bedeutet Glaube und Zuversicht, und ihr werdet keine größere Optimistin kennenlernen als mich. Für Wahrheit steht der Name auch, und ich sage immer die Wahrheit.«
Von einer Sekunde zur anderen wechselte sie den Gesichtsausdruck, sie steckte die Spitze des kleinen Fingers in den Mund, legte den Kopf schief und sagte in schmeichlerischem Ton: »Du bist total niedlich. Kaufst du mir Pommes? Und eine Limonade? Und ein Eis?«
Werner zuckte hilflos mit den Schultern und suchte nach seiner Geldbörse. In diesem Moment drang vom Ufer her wildes Geschrei zu ihnen. Jonas sprang auf. Mike war nirgends zu sehen.
Der Lärm kam von einer Gruppe junger Leute, die sich ein Stück weiter am Wasser versammelt hatten. Noch hatte Jonas nicht begriffen, was vor sich ging, da war Vera schon wie der Blitz an ihm vorbei und auf dem Weg zu dem johlenden Haufen. Ihr dicht auf den Fersen folgte Werner. Als sie bei dem Tumult ankamen, hatte Jonas beide eingeholt.
Sie drängten sich durch die Schar von Gaffern, unter denen auch Erwachsene standen, lachende dicke Männer mit Schnauzbärten, Frauen mit schlecht gefärbten Haaren. Mike stand am Ufer und wehrte sich gegen
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