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Das größere Wunder: Roman

Das größere Wunder: Roman

Titel: Das größere Wunder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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ab und sprang vom Fahrersitz.
    »Fragt sich, wie wir da alle hinkommen. Entweder zwei fahren hinten auf dem Anhänger mit, und wir koppeln den erst dort ab. Oder wir machen das hier und sitzen alle drei vorne, aber das wird ziemlich eng.«
    Vera warf einen Blick in den offenen Anhänger, auf dem allerhand Gerümpel lag. Kaputte Plastikeimer steckten unter fauligen Holzbrettern, aus aufgerissenen Säcken rieselte Gips über zerbrochene Fensterscheiben, und im Staub auf der Ladefläche waren unzählige kleine Pfotenabdrücke zu sehen.
    »Lieber unbequem als Blutvergiftung«, sagte sie.
    Sie koppelten den Anhänger ab. Jonas kletterte auf den Fahrersitz, fuhr den Traktor aus der Scheune und ließ die anderen aufsteigen.
    »Ist es weit?« rief Vera gegen den Wind und das Knattern des Motors an.
    »Kaum der Rede wert.«
    »Also zwei Stunden!«
    »Quatsch, mit dem Auto sind es keine zehn Minuten, also mit diesem Ungetüm hier vielleicht zwanzig.«
    »Ist das schon Vollgas?« fragte Werner und klammerte sich in einer Kurve an einer Stange fest.
    »Absolute Höchstgeschwindigkeit. 40, nein, 43 Stundenkilometer!«
    Während der Fahrt ließ der Regen nach. Jonas bemühte sich, nicht zu oft nach links zu schauen, wo Vera, die er bisher immer nur in kurz abgeschnittenen, fransigen Jeans gesehen hatte, ihre nackten Beine gegen den Haltegriff stemmte, den man beim Aufsteigen benutzte. Natürlich wusste er theoretisch, warum ihn dieser Anblick verwirrte, doch Theorie war eine Sache, die Realität eine andere. Er fühlte, dass hier etwas begann, was er nicht verstand, vielleicht noch nicht verstand, und was er in Ruhe auf sich zukommen lassen sollte.
    »Was ist denn das da drüben?« Vera wies auf eine Ruine neben einem Bauernhaus. »Ist das abgebrannt?«
    »Sieht mir aus wie in die Luft gesprengt«, sagte Werner.
    »Wem gehören diese Felder hier?«
    »Eines Hansi, das andere Pepi, das dritte Franzi, das vierte Hubsi und wie sie alle heißen mögen, die Grundbesitzer dieser Gegend. Die meisten pferchen ihre Tiere in viel zu kleine Ställe, anstatt sie frei herumlaufen zu lassen, und auf den Feldern pflanzen sie irgendetwas an, das ihnen noch ein bisschen mehr Geld einbringt, als sie ohnehin schon verdienen. Die haben alle nur Geld im Kopf.«
    »Wenn man zuwenig hat, kriegt man es eben nicht aus dem Kopf.«
    »Die haben aber nicht zuwenig!«
    »Das weißt du nicht mit Sicherheit.«
    »Doch! Außerdem …«
    »Nichts außerdem! Wer wie ihr in so einem Kasten lebt und sich nie darüber Gedanken machen muss, wie er die Miete oder andere Rechnungen zahlt, sollte nicht über Leute urteilen, denen es schlechter geht. Vielleicht brauchen diese Bauern das zusätzliche Geld von den Feldern und aus ihrer Tierhaltung, um überhaupt durchzukommen. Weißt du es?«
    »Bist du Kommunistin oder was?«
    »Nein, ich habe bloß ein Gehirn. Bist du ein Grüner? Wegen deinem ständigen Tiergefasel? Als wären die Menschen nichts wert?«
    »Grüner bin ich eher keiner.«
    »Was bist du dann? Was würdest du wählen, wenn du dürftest?«
    »Also du fragst Sachen …«
    »Jonas, was ist mit dir? Wen würdest du wählen?«
    Jonas gab keine Antwort. Er hätte ihnen sagen können, dass er jetzt schon sicher war, niemals im Leben an einer politischen Wahl teilzunehmen, doch die beiden hatten ihren Streit ohnehin längst fortgesetzt.
    Je näher sie der Spitze des Hügels kamen, wo die Piste begann, desto mehr rätselte Jonas, was er da tat. Wollte er den beiden imponieren? Nein. Seine Freunde kannten ihn, wie er war, er musste sich nicht als ein anderer ausgeben, und was Fremde über ihn dachten, war ihm einerlei. Er wusste nur, er fühlte sich von der Piste, von diesem absurd steilen Stück Straße, auf unruhige Weise angezogen, und seit ihm die Idee mit dem Traktor gekommen war, wusste er, dass nichts ihn daran hindern würde, diese waghalsige Fahrt zu unternehmen, sei es mit den beiden, sei es allein. Und je weiter sich der alte Traktor jener höchsten Stelle des Hügels ratternd entgegenschob, wo links und rechts der Straße frisch gefällte Baumstämme gestapelt waren, die dunklen Holzduft ins Tal schickten, desto mehr erfüllte Jonas eine sonderbare Mischung aus Neugier und Befriedigung, ähnlich wie an dem Tag, als er mit der Olivenölflasche durch den Garten getaumelt war.
    »Willst du das wirklich machen?« fragte Werner.
    »Du nicht?«
    »Ich muss erst oben stehen und da runterschauen.«
    »Wird das bald sein?« fragte Vera.
    »Das da vorn ist die

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