Das größere Wunder: Roman
letzte Kuppe. Dann siehst du es.«
»Dann sehe ich was?«
»Mir fällt gerade ein, was der Boss einmal behauptet hat«, sagte Werner und wischte sich die nassen Haare mit einer eleganten Bewegung, die recht einstudiert wirkte, aus der Stirn. »Jeder Mensch hat so etwas wie einen innersten Kern, etwas, das ihn ausmacht. Aha, sage ich, wie sieht der denn bei ihm aus? Antwortet er, das verstehe ich sowieso nicht. Sage ich, dann hätte er nicht damit anfangen dürfen. Zieht er so wie üblich die Nase hoch und sagt mit Grabesstimme: Ich bin die Kraft, die stets das Gute will und doch das Böse schafft. Erst da habe ich gemerkt, dass auf dem Tisch die Whiskyflasche stand, und viel war nicht mehr drin. Hohenwarter war auch da, der hat sich in der Ecke schiefgelacht.«
»Und was hat das jetzt mit uns zu tun?«
»Über dich hat er sich auch geäußert.«
»Ah! Bin sehr gespannt. Hoffentlich hat er meinen reinen Charakter erkannt.«
»Vera, hör zu: Der innerste Kern des pubertierenden Wesens da neben dir, dessen Wahnsinn augenfällig ist, sonst würden wir nicht hier sitzen, ist sein Wunsch, das Chaos zu beherrschen. Hohenwarter hat nicht gelacht, also dürfte was dran sein. Keine Ahnung, was er damit ausdrücken wollte. Wahrscheinlich, dass du einfach irre bist.«
»Was hat er denn über deinen inneren Kern zu sagen gewusst, hä? Sicher nichts Gutes. Er ist ein Menschenkenner.«
»Er meinte, ich sei im Inneren der ewige Tänzer. Hohenwarter fragte, ob er damit sagen will, dass ich schwul bin. Dann kam Zach rein, und über den hat er gesagt, er sei im Innersten ein Priester. Ich dachte, Zach zerlegt das Zimmer. Mir hat es gelangt, und ich hab mich verzogen.«
»Könnt ihr zwei bald mal mit dem hochtrabenden Scheiß aufhören?«
»Genau jetzt«, sagte Jonas, »denn jetzt geht’s gleich abwärts.«
Vor ihnen lag die Piste. Jonas zog die Handbremse und stellte den Motor ab.
»O mein Gott.«
»Schön, nicht?«
Vera tippte sich gegen die Stirn. Ihre Lippen bewegten sich ohne einen Laut. Bei ihrem panischen Sprung vom Traktor landete sie in einer Schlammpfütze.
»Verdammt, ihr blöden Idioten! Diese Spritzer kriege ich nie wieder aus dem Top raus!«
»Wo willst du überhaupt hin?«
»Ich bin exakt da, wo ich sein will, du Träne! Zumindest bin ich nicht da, wo ich gerade absolut nicht sein will, und das ist da oben! Was um alles in der Welt hast du vor?«
»Ich fahre los und gebe Vollgas. Dann kupple ich den Gang aus und warte ab, was passiert, wenn man mit einem Traktor im Leerlauf so eine Straße hinabrast, ohne zu bremsen.«
»Aber man kann sich doch mit viel weniger Aufwand umbringen! Was hat dir der Besitzer des Traktors getan? Denkst du nicht an die armen Leute von der Rettung, die deine Teile einsammeln werden? Und wieso müssen wir zusehen?«
»Ich werde mich nicht umbringen.«
»Im Leerlauf?« fragte Werner. »Ohne zu bremsen?«
»So ist es geplant, ja.«
»Weißt du, wie schnell du da wirst?«
»Das möchte ich eben herausfinden.«
»Davon möchte ich dir dringend abraten.«
»Du bist ja auch der ewige Tänzer.«
»Du hast keine Ahnung, ob so ein altersschwaches Vehikel bei dem Tempo nicht auseinanderfliegt.«
»Das weiß ich auch bei einem moderneren nicht. Wieso sollte es das?«
»Siehst du irgendwo an diesem Fahrzeug so etwas wie Spoiler oder Heckflügel oder wenigstens einen Überrollbügel? Worauf wir hier sitzen, ist mit Sicherheit nicht für Hochgeschwindigkeitspisten gebaut. Die Bremsen mal ganz bestimmt nicht.«
»Wir haben ja genug Auslauf auf der anderen Seite.«
»Ich weiß ja nicht, wie das mit Traktoren ist, aber normale Autos haben so etwas wie eine Lenkradsperre, wenn man den Schlüssel abzieht.«
»Wann habe ich denn etwas vom Schlüsselabziehen gesagt? Nur Leerlauf.«
»Narr. Spinner!«
»Bist du dabei?«
»Natürlich. Aber nicht auf diesem Schleudersitz hier neben dir. Wenn du es überlebt hast, bin ich dran.«
»Auch recht, du Draufgänger.«
Gerade als Werner absprang, hörte Jonas neben sich ein kratzendes Geräusch. Er wandte sich um und sah Vera, die sich an der linken Seite des Traktors auf ihren Sitz zog.
»Hast du es dir überlegt?«
»Du meinst, da passiert nichts?«
»Quatsch. Natürlich nicht.«
»Du bringst mich nicht um? Versprochen? Ich bin klug und schön, wegen mir ist ein Lehrer suspendiert worden, ich habe das ganze Leben noch vor mir, ich werde studieren und jeden Mann kriegen, den ich haben will, ich sehe Ölscheichs, Prinzen und Filmstars
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