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Das größere Wunder: Roman

Das größere Wunder: Roman

Titel: Das größere Wunder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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Stiftlampe in die Augen. »Schau nach links … nach rechts … okay. Wie fühlst du dich jetzt?«
    »Als hätte mir jemand eins übergezogen.«
    »Ist dir übel?«
    »Nicht allzu sehr.«
    »Das ist gut. Diese Nacht kann ich dich hierlassen, aber morgen früh steigst du sofort zum Basislager ab.«
    »Das war ja ohnehin geplant, oder?«
    »Richtig. Aber die anderen können absteigen. Du musst.«
    »Was denkst du denn, was mit mir los ist?«
    »Kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Ich tippe auf zuviel Sonne und zuwenig Flüssigkeitszufuhr. Jetzt kann man sich ja mit dir unterhalten. Erinnerst du dich an alles?«
    »Woher soll ich denn das wissen? So eine Frage kann man ja nie beantworten, das ist unlogisch.«
    »Es geht dir sichtlich besser. Auf alle Fälle lege ich dir heute Nacht einen Aufpasser ins Zelt.«
    »Das übernehme ich!« rief Sam draußen. »Ich kann sowieso nicht schlafen.«
    »He, das sind Patientengespräche! Schon mal was von Diskretion gehört? Verschwinde da!«
    »Ganz ruhig, du bist hier nicht in deiner Praxis in Chelsea! Aber ich gehe ja schon! Wollte nur hören, ob es dem Kollegen wieder bessergeht.«
    Helen schüttelte den Kopf. »Alles Verrückte hier.«
    Sie zog das Blutdruckmessgerät von Jonas’ Arm ab und packte es mitsamt dem Rest ihrer medizinischen Ausrüstung, die im ganzen Zelt verstreut war, in ihre Tasche. Jonas bemerkte einen Ausdruck in ihrem Gesicht, den er vorhin noch nicht wahrgenommen hatte.
    »Sonst etwas vorgefallen? Alle gut angekommen?«
    Helens Ja wurde vom Pfeifen des Windes übertönt, als sie den Reißverschluss am Eingang öffnete. Schnee flockte ins Zelt, Eiskristalle rieselten auf seinen Schlafsack.
    »Warte! Was ist los?«
    »Nichts ist los. Ruh dich aus.«
    »Würdest du mir gefälligst …«
    »Hank Williams hatte einen Herzinfarkt.«

20
     
    In der Woche nach dem Traktorausflug klopfte Hackl, der Postbote, der für seine Wutausbrüche bekannt war und seine Frau und seine Kinder schikanierte, an die Tür des großen Arbeitszimmers, um drei Päckchen abzuliefern, für jeden der Jungen eines. Jonas und Werner hatten gerade Naturwissenschaft.
    »Was ist das?« schrie der cholerische Postbote. »Was habt ihr da bestellt? Wie das stinkt! Einer von euch unterschreibt mir den Empfang, dann bin ich hier draußen und komme nie wieder!«
    »Ich habe eine Sehnenscheidenentzündung im Handgelenk«, sagte Jonas.
    »Ich habe über Nacht das Schreiben verlernt«, sagte Werner.
    »Lasst den Blödsinn und unterschreibt mir das auf der Stelle!«
    »Hier muss doch irgendwo eine Schere rumliegen.«
    »Das riecht ja tatsächlich grauenhaft«, sagte Claudia. »Was immer ihr euch da bestellt habt, hier öffnet ihr es bestimmt nicht. Schafft es fort, und wir machen weiter.«
    »Da das dritte Paket an Mike adressiert ist und der nun mal garantiert nichts bestellt hat, wird das eher kein Versandartikel sein. Ich tippe auf irgendeine Gemeinheit. Aha. Also wer immer uns da beschenken möchte, unsere Namen kann er schon mal nicht richtig schreiben.«
    »Kriege ich jetzt bald meine Empfangsbestätigung?«
    »Das Leben ist voller Unwägbarkeiten«, sagte Jonas.
    »Man weiß nie, was kommt«, sagte Werner.
    Aus einigem Sicherheitsabstand verfolgte Jonas, wie Werner eines der Päckchen an der Seite aufriss. Neben Werners Uhr, die jemand kaputtgeschlagen hatte, enthielt die Schachtel seine Geldbörse, die er so wie die Uhr aus einer Plastikwanne voller Kuhmist ziehen musste.
    »Es muss sich um eine ältere Kuh gehandelt haben«, bemerkte Werner mit Kennermiene. »Wir können den Haufen gleich in den Unterricht integrieren und analysieren.«
    »Diese Unterschriften schreibe ich mir selber, und wenn es mich die Pension kostet«, sagte Hackl und ließ die Tür hinter sich zukrachen.
     
    »Haben die Leute hier grundsätzlich etwas gegen euch?« fragte Vera am Nachmittag im Gastgarten einer heruntergekommenen Bar, in der man ihrer Ansicht nach die besten Milchshakes bekam. »Und wenn ja, habt ihr ihnen einen Grund gegeben?«
    »Eigentlich nicht«, sagte Werner. »Natürlich nicht, aber aus ihrer Sicht schon. Du weißt wenig über Österreich, wie?«
    »Mozart, Schnitzel, Skifahren. Reicht doch.«
    »So schlimm ist es auch wieder nicht. Obwohl, na, eigentlich schon. Jedenfalls sind wir den Leuten hier verdächtig.«
    »Verdächtig, inwiefern?« fragte Vera.
    »Na insofern, als wir etwas Besseres sind«, sagte Werner. »Oder uns aus ihrer Sicht zumindest dafür halten.«
    »Tut ihr das etwa

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