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Das größere Wunder: Roman

Das größere Wunder: Roman

Titel: Das größere Wunder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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nicht?«
    »Ich halte mich für nichts Besseres«, warf Jonas ein. »Ich bin nur anders.«
    »Ich halte mich nicht für etwas Besseres«, sagte Werner, »ich bin etwas Besseres. Ich bin intelligent, gebildet, kultiviert, charmant, trotz meiner jungen Jahre schon ein Sir …«
    Vor Lachen spuckte Jonas seinen Milchshake über den Tisch.
    »Jawohl«, rief Werner, »und ich wasche mich täglich, schneuze mich nicht ins Tischtuch, esse mit Messer und Gabel …«
    »Und du bist ein Arsch«, sagte Vera.
    »Aber ein lustiger Arsch. Und du wirst schon noch merken, wo du hier gelandet bist.«
    »Langsam verstehe ich, wieso man euch Kuhmist zuschickt.«
    Jonas zahlte und stand auf, die anderen folgten ihm. Er war nervös, ohne zu wissen warum. Auf dem Weg zum Kleiderladen, der ein paar Wochen zuvor aufgemacht hatte, tänzelte er beim Gehen wie ein kleiner Junge, kratzte sich, obwohl ihn nichts juckte, und schaute in den Himmel, obwohl ihn im Augenblick dort oben wenig interessierte. Die anderen bemerkten zum Glück nichts davon, sie waren viel zu sehr auf ihre Debatte konzentriert.
    »Man muss das doch sagen dürfen«, rief Werner. »Manches ist besser, manches schlechter. Manche Leute können mehr als andere. Das muss man doch klar sagen dürfen!«
    »Man muss aber nicht alles sagen, was man sagen darf. Schon mal was davon gehört, dass man auch zu klug sein kann?«
    »Das bin ich ganz bestimmt!«
    Als sie das Geschäft betraten und Werner an einem Ständer mit Sonnenbrillen haltmachte, drängte sich Jonas neben Vera und sagte leise:
    »Er meint es nicht wirklich so. Ihm macht es Spaß, solche Sachen zu sagen, aber in Wahrheit ist er bloß traurig.«
    »Traurig worüber?«
    »Dass die Leute ihn nicht verstehen.«
    »Was denn verstehen? Ach, erzähl mir das nachher, such dir jetzt endlich ein Hemd, in dem du nicht wie ein Flughörnchen aussiehst.«
    Sie versetzte Jonas einen Stoß Richtung Herrenabteilung. Die Berührung ihrer Hand auf seiner Schulter ließ ihn zusammenzucken. Er war so verwirrt, dass er beinahe eine Verkäuferin umgerannt hätte.
     
    Früher war es Jonas egal gewesen, ob seine Socken zu den Schuhen passten oder ob sich die Farbe seines T-Shirts mit der seiner Hose vertrug, doch seit einiger Zeit machte es ihm Spaß, neue Kombinationen auszuprobieren, so wie er öfter vor dem Spiegel mit seiner Frisur experimentierte, heimlich natürlich, um sich Werners Spott zu ersparen.
    Bei den Hemden hatte er kein Glück, aber er fand zwei Jeans und drei T-Shirts, und wie üblich kaufte er alles doppelt. Für Mike nahm er einen Pyjama mit aufgedruckten bunten Autos dazu.
    »Erste Sahne«, sagte Vera, als die Jungen umgezogen vor ihr standen, »langsam werden Menschen aus euch.«
    Jonas sagte nichts. Er roch den Duft von Süßigkeiten und wusste, er würde sich ewig an diese Situation erinnern und sie mit diesem Geruch verbinden. Menschen, die sich auf dem Weg zur Kasse an ihm vorbeidrängen mussten, schimpften, die Klimaanlage blies ihm eisige Luft in den Nacken, und er stand nur da, diesen Geruch in der Nase.
    In jener Minute, im Bann von Veras prüfendem Blick, begriff er, dass etwas vorbei war. Das Neue, das er mehr ahnte als fühlte, war aufregend und verheißungsvoll und verlockend wie nichts zuvor. Und doch schreckte ihn das Bewusstsein, dass es kein Zurück mehr gab zur erwartungslosen Unschuld.

21
     
    »Wird schon alles gutgehen mit dem alten Kerl. Gerüchteweise hat er schon drei Herzinfarkte überstanden. Wenn das stimmt, muss der ja verrückt sein, überhaupt herzukommen. Aber von dem Schlag gibt es hier einige. Hast du dir die Ausrüstung von den Typen angesehen, die seit vorgestern neben uns wohnen? Die haben rein gar nichts. Vermutlich wollen sie sich alles zusammenklauen.«
    »Schlaf gut, Sam.«
    »Ich schlafe noch nicht. Kann sowieso nicht schlafen in der Nacht. Tagsüber fallen mir dann die Augen zu. Verdammt, ich habe tatsächlich geglaubt, du hast ein Hirnödem abgekriegt. Weißt du, was ein Hirnödem ist?«
    »Ja, Sam, das weiß ich.«
    Draußen waren Stimmen zu hören, jemand lachte. Eine Windböe prallte gegen die Zeltwand, als hätte jemand mit einer mächtigen Faust dagegengeschlagen. Jonas fror. Er wickelte sich fest in seinen Schlafsack.
    »Ganz rätselhafte Sache«, sagte Sam. »Durch die Höhe tritt die Flüssigkeit aus den Blutgefäßen im Hirn aus, und in den Adern verbleibt die restliche Pampe. Überleben nicht viele. Einziges Mittel dagegen ist sofortiger Abstieg. Aber du hast definitiv

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