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Das größere Wunder: Roman

Das größere Wunder: Roman

Titel: Das größere Wunder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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was anderes. Einen Sonnenstich wahrscheinlich.«
    »Kannst du bitte aufhören, mir in die Augen zu leuchten?«
    »Ich sage ja, alles in Ordnung. Den einen oder anderen wird es erwischen, daran besteht kein Zweifel. Hadan macht das perfekt, an seinem Akklimatisierungsplan gibt es nichts auszusetzen, und doch wirst du niemals eine hundertprozentige Garantie haben, dass du heil runterkommst. Bei all den Amateuren und Glücksrittern, die da unten durchs Basislager spazieren, sieht die Angelegenheit freilich noch schlimmer aus. Die besaufen sich eine Woche und hüpfen dann launig den Berg hoch, und wenn sie merken, sie haben sich übernommen, ist es zu spät. Wenn sie es merken. Dein Hirnödem merkst du ja selbst gar nicht mehr, das merken die anderen.«
    »Was ist denn das für eine Besessenheit von Hirnödemen hier?«
    »Ist doch wirklich ein erstaunliches Phänomen. Da sickert dir das Wasser aus den Adern, und …«
    »Sam!«
    »Willst du auch ein Bier?«
    »Du hast Bier hier hochgeschleppt?«
    »Bloß fünf Flaschen. Nach so einer Nacht wie gestern muss man sein inneres Gleichgewicht wiederherstellen. Zwei sind noch da. Willst du eine?«
    »Nein, Sam, ich möchte kein Bier. Ich bin müde.«
    Jonas hatte kaum Gefühl in den Zehen. Er setzte sich auf, um sie zu reiben und die Blutzirkulation wieder in Gang zu bringen. Kurz wurde ihm schwarz vor Augen.
    »Müdigkeit ist am Everest ein Dauerzustand«, sagte Sam. »Da oben sollte man gar nicht mehr schlafen. Die Gefahr, nicht mehr aufzuwachen, ist zu groß. Wird einigen von den Lümmeln passieren, die hier nichts zu suchen haben. Wollen alle groß rauskommen. Werden dann, nachdem sie sich den Everest erschlichen haben, indem sie die Leitern und die Fixseile und manchmal sogar den Sauerstoff anderer Teams nützen, zu so etwas wie Bergsteigerstars, woraus sie eine Karriere als Persönlichkeits- und Motivationstrainer entwickeln oder zumindest anfangen, gutbezahlte Vorträge zu halten. Ein Haufen Mistkerle ist das. Und wenn eine anständige Expedition wie unsere hoch oben auf einen von denen stößt, der einen Schritt zu weit gegangen ist und jetzt in der Scheiße sitzt, heißt es dem Trottel den Arsch retten und die eigenen Chancen begraben. Gerecht ist das nicht. Zumal der Scheißer dich umgekehrt nicht retten würde, der würde an dir vorbeistapfen und fröhlich das Trikot seiner blöden Baseballmannschaft, oder was immer er mitgenommen hat, da oben auf den Gipfel legen. Fairness verliert. Die Arschlöcher schmarotzen sich durch und ruinieren den Berg. Das ganze Bergsteigen ruinieren die. Gehören einfach nicht hierher.«
    Allmählich kehrte Gefühl in seine Zehen zurück. Jonas nahm sich den anderen Fuß vor.
    »Als Bergsteiger gehöre ich auch nicht hierher. Ohne die Bergführer und die Sherpas käme ich nie und nimmer auch nur in die Nähe des Gipfels, da hat Hadan recht.«
    »Das glaube ich nicht. Du machst einen ziemlich harten Eindruck. Außerdem bist du ein Tiefstapler. Ein stilles Wasser. Dass du Marc Boyron kennst, hast du verschwiegen, als ich dir von seinem Abenteuer erzählte, mir machst du nichts mehr vor. Wahrscheinlich hast du schon vier oder fünf Achttausender in der Tasche und redest bloß nicht darüber. Auf alle Fälle gehörst du hierher, denn du bist ein anständiger Bergsteiger in einem anständigen Team. Dieses Team beseitigt seinen Müll, es zahlt den Einheimischen mehr, als es müsste, und alle Teilnehmer sind in guter physischer Verfassung. Immerhin haben wir keine Beinamputierten dabei. Hast du das Blindenteam schon gesehen? Na, sie dich auch nicht. Okay, schlechter Scherz. Soll eines angekommen sein, lauter Blinde. Mann Gottes! Es wird jeden Tag eine Rettungsaktion geben. Apropos gute physische Verfassung, ich habe gestern einen Blick auf unsere Italienerin beim Duschen werfen können, das ist eine sensationelle Erscheinung. Obwohl mir die andere beinahe besser gefällt, diese Nina.«
    »Ist es nicht schlecht für deine Stimme, wenn du soviel redest?«
    »Auch schon egal. Besser wird sie nicht mehr, und an die Schmerzen gewöhnt man sich. Das ist gar nichts gegen das, was noch kommen wird. Bist du vorbereitet? Auf die Schmerzen? Auf die Kälte? Die Kälte ist grauenhaft, ich kann sie nicht leiden. Du willst wirklich kein Bier?«
    »Bin viel zu müde, ich schlafe jetzt lieber.«
    »Ist dir übel?«
    »Ein wenig.«
    »Na, ich nehme mir noch eines. Ich habe mal meinen Bruder in Japan besucht, da habe ich mich überhaupt nur von Bier ernährt.

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