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Das größere Wunder: Roman

Das größere Wunder: Roman

Titel: Das größere Wunder: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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Es war niemand da, niemand außer ihm.
    Draußen hörte er die Geräusche, die die Sherpas beim Aushacken eines Zeltplatzes machten, hörte ihre Stimmen, hörte das Husten eines Mannes. Er musste selbst husten, lange und heftig.

36
     
    Alles wurde anders.
    Alles schien sich zu verändern, die Menschen, die Umstände, die Stimmung der Welt.
    Vera kam, sie lagen miteinander im Bett, sie diskutierten über ideale Surfergefilde, sie kochten mitten in der Nacht aufwendige Fischgerichte, sie jagten sich gegenseitig durchs ganze Haus und schrieben einander mit Kugelschreiber Nachrichten auf die Haut, und doch stand etwas zwischen ihnen. Ob sie zu zweit waren, ob Werner dabei war oder Anouk, die ihn jede zweite Woche besuchen kam, es war nicht mehr wie früher. Und Jonas dämmerte, dass es vielleicht nie so gewesen war wie früher.
    Werner blieb oft in seinem Zimmer. Er war ernster als vor dem Sommer. Über den Postboten sprachen sie nie. Jonas wusste, dass ihm Werner im Stillen zustimmte, egal was geschehen war oder was er hatte geschehen lassen. Dennoch schien das, was Werner beschäftigte, unter anderem mit diesen Ereignissen zu tun zu haben. Dabei hatte sich nichts an der Vertrautheit zwischen ihnen geändert, und sie trieben Kindereien wie eh und je.
    Natürlich sprach er ihn darauf an. Werner schüttelte nur den Kopf.
    »Ich weiß nicht. Etwas fehlt.«
    »Kannst du sagen, was?«
    »Nein. Am ehesten lässt sich das, was ich fühle, mit Eifersucht vergleichen.«
    »Auf wen bist du eifersüchtig? Auf mich?«
    »Ich bin auf keine Person eifersüchtig. Eher auf einen Zustand. Keine Ahnung.«
    Auch Zach und Picco waren anders.
    Zach behandelte Jonas nach diesem Sommer wie einen Erwachsenen. Und Picco ging es offensichtlich rapide schlechter. Er magerte stark ab, verschwand für vier Wochen in einem Sanatorium, dessen Lage er nicht verriet, weil er nicht besucht werden wollte, und als er zurückkam, schloss er sich die meiste Zeit des Tages in seinem Arbeitszimmer ein, dem Zimmer mit dem grässlichen Reiterbild an der Wand.
    Es gab nur drei Konstanten. Regina kochte gleich schlecht. Gruber war griesgrämig wie immer. Und Hohenwarter fragte römische Geschichte ab.
     
    Vielleicht ist es der Herbst, dachte Jonas morgens, während er sich anzog, mit einem Blick auf den Wald hinter dem Anwesen, an dessen Bäumen sich die Blätter zu färben begannen.
    Er ließ das Frühstück ausfallen und ging hinüber zu Piccos Arbeitszimmer, der seit einiger Zeit Frühaufsteher war. Die offenstehende Tür überraschte ihn, vermutlich hatte der Boss zu dieser Stunde nicht mit Besuch gerechnet.
    Jonas klopfte an den Türrahmen. »Darf ich?«
    »Immer herein mit dir!«
    Jonas setzte sich in einen der tiefen Ledersessel und gab sich Mühe, das Gemälde hinter Picco zu ignorieren. Erst jetzt fiel ihm Dagobert auf, der auf Piccos Schoß saß und sich das Fell kratzte.
    »Ich wollte dich um etwas bitten.«
    »Schieß los.«
    »Das ist nicht so einfach. Ich frage mich, wieso ich nicht schon früher zu dir gekommen bin.«
    »Ah!« Picco legte die Füllfeder aus der Hand und setzte die Lesebrille ab, die er mittlerweile benötigte. Dem Kater war das zuviel an Bewegung, er sprang hinunter und verschwand unter dem Schrank. »Es geht um deine Mutter, habe ich recht?«
    Woher weiß er das schon wieder, fragte sich Jonas, der Mann wird mir immer ein Geheimnis bleiben.
    »Du bist ihr nichts schuldig.«
    »Das weiß ich«, sagte Jonas. »Trotzdem muss sich jemand um sie kümmern.«
    Picco setzte die Brille wieder auf und sah Jonas über den Rand hinweg an.
    »Mein Junge, es gibt Menschen, denen kann man helfen. Es gibt Menschen, denen kann niemand helfen. Und es gibt Menschen, denen soll niemand helfen.«
    »Zu letzteren zählst du dich wohl selbst.«
    Picco lachte. »Ich denke da eher an deine Mutter.«
    »Aber –«
    »Glaub mir, ich habe es versucht. Du weißt vieles nicht. Vergiss es, denk nicht mehr daran. Du bist ihr nichts schuldig. Niemand ist ihr etwas schuldig, sie gehört zu den Menschen, die sich selbst immer etwas schuldig bleiben, ihr ganzes Leben. Diese Leute können sich nur selbst helfen.«
    Picco griff wieder nach seiner Füllfeder. Er fing an, rätselhafte Zeichnungen in sein Heft zu kritzeln, und sah nicht mehr auf.
    Jonas ging zurück in sein Zimmer, holte seine Arbeitsmappe und machte sich auf den Weg in die Bibliothek, wo die Kommission wartete, die Werner und Jonas das mündliche Abitur abnahm, wozu aufgrund ihres Alters eine

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