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Das große Buch der Lebenskunst

Titel: Das große Buch der Lebenskunst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anselm Grün
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Heisterbach. Da meditiert ein junger Mönch im
Klostergarten über den Vers aus dem zweiten Petrusbrief, dass »beim Herrn ein Tag wie tausend Jahre und tausend Jahre wie ein Tag sind« (2 Petr
3,8). Aber er versteht den Vers einfach nicht. Da geht er sinnierend in den Wald. Er hört und sieht nicht mehr, was um ihn herum geschieht. Erst als er
die Vesperglocke hört, kehrt er schnell zum Kloster zurück. Ein Unbekannter öffnet ihm das Tor. Er tritt in die Kirche und eilt seinem angestammten
Platz zu. Doch da sitzt schon ein anderer. Er überblickt die lange Reihe der Mönche. Keinen von ihnen kennt er. Und auch er wird angestaunt von den
Mönchen. Man fragt nach seinem Namen. Als er ihn sagt, da murmeln sich die Mönche zu: 300 Jahre hieß so niemand mehr. Denn der Letzte dieses Namens war
ein Zweifler, der im Wald verschwand. Daher hat man seinen Namen keinem mehr anvertraut. Als der Mönch seinen Abt nennt und das Jahr seines Eintritts,
da nimmt man das alte Klosterbuch zur Hand und erkennt, dass er es ist, der vor 300 Jahren verschwand. Der junge Mönch erschrickt, sein Haar ergraut,
und sterbend mahnt er seine Brüder: »Gott ist erhaben über Ort und Zeit. Was Er verhüllt, macht nur ein Wunder klar. Drum grübelt nicht, denkt meinem
Schicksal nach. Ich weiß, ihm ist ein Tag wie tausend Jahre, Und tausend Jahre sind ihm wie ein Tag.«
    Vielleicht brauchen wir auch ein Wunder, um das Geheimnis von Zeit und Ewigkeit zu verstehen. Wenn wir darüber nachdenken, so stehen wir in einer
großen Reihe von Philosophen und Theologen, von Dichtern und Mystikern, die alle über das Ineinander von Zeit und Ewigkeit nachgedacht haben. Augustinus
meint, Zeit sei ungreifbar. Die Vergangenheit ist vorbei. DerAugenblick entschwindet uns in jedem Moment. Und die Zukunft ist noch
nicht da. Martin Heidegger hat sein großes Werk »Sein und Zeit« genannt. In einem Vortrag meint er: »Wenn die Zeit ihren Sinn findet in der Ewigkeit,
dann muss sie von daher verstanden werden.« Im Verhältnis von Zeit und Ewigkeit rühren wir an die Grundspannung, die wir als Menschen zwischen Himmel
und Erde erfahren.
Ruhig in dir selber
    V on Augustinus stammt der Satz: »Sei still und verstehe, denn du verwirrst dich, und innen in deinem
Gemach verdüsterst du das Licht. Strahlen will dir der ewige Gott, mach dir nicht ein Genebel aus Wirrnis; sei ruhig in dir.«
    Stille kommt von »stehen bleiben«. Wer still sein will, muss stehen bleiben. Er muss innehalten, anstatt weiterzueilen. Stehen bleiben ist für
Augustinus die Voraussetzung, sich selbst zu verstehen, den Nächsten und das Geheimnis der Welt zu verstehen. Verstehen hat mit Stehen zu tun. Im
Vorübereilen verstehe ich nichts, weder die Worte der Menschen noch das Herz derer, an denen ich vorbeilaufe. Wer immer weitereilt, der wird innerlich
verwirrt, dessen Herz verdüstert sich. Stehen bleiben, still werden, ist die Voraussetzung, dass sich das Trübe in uns klärt, dass der Nebel sich
auflöst und wir klar erkennen, was ist. Und erst wenn das Innere klar wird, finden wir Ruhe in uns selbst, können wir es bei uns selbst
aushalten. Augustinus fordert uns nicht auf, Ruhe zu geben und nach außen hin ruhig zu sein. Er sagt: »Sei ruhig in dir.« In sich ruhen, in seiner Mitte
ruhen, das ist die Voraussetzung auch für die äußere Ruhe.
Gipfelerfahrung
    E in Aspekt eines Gipfelerlebnisses ist, dass wir ganz allein sind. David Steindl-Rast deutet dieses Wort allein als all-eins, mit allem eins sein und mit sich ganz eins sein. Das war eine wichtige Erfahrung im frühen Mönchtum. Dionysius Areopagita
leitet das Wort Mönch (monachos) von monas ab, von der Einheit. Der Mönch ist der, der ganz eins ist, der mit sich selbst eins ist, aber zugleich mit
allen und allem. Evagrius Ponticus, der griechische Mönch aus dem 4. Jahrhundert, schreibt in einem Text über das Gebet: »Ein Mönch ist ein Mensch, der
sich von allem getrennt hat und sich doch mit allem verbunden fühlt. Ein Mönch weiß sich eins mit allen Menschen, denn immerzu findet er sich in jedem
Menschen.« Er fühlt sich mit dem ganzen Kosmos eins.
    Vom heiligen Benedikt wird berichtet, dass er in einem einzigen Sonnenstrahl die ganze Welt erblickt hat. Das ist ein typisches Merkmal von
Kontemplation. Ich werde mit der ganzen Welt eins. Es bedeutet nicht, dass ich alles der Reihe nach anschauen kann, sondern alles ist auf einmal da. Ich
schaue in den Urgrund, in dem alles miteinander verbunden ist, in dem alles eins ist. In

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