Das große Doppelspiel
traumlos und erwachte so
unvermittelt, daß sie wußte, irgend etwas mußte sie
aus dem Schlaf gerissen haben. Sie lag da und versuchte
herauszubekommen, was es war. Dann knallten wieder Schüsse, und
sie sprang aus dem Bett, schlüpfte in den Morgenmantel und eilte
auf den Balkon.
Jemand rief auf deutsch, ein Gegenstand flog sehr
schnell vorbei und wurde in Stücke geschossen. Sie schaute
hinunter. Genau unter ihrem Balkon stand Priem und lud eine Flinte
nach. Hinter ihm hockte ein Unteroffizier neben einer kleinen Kiste auf
der Erde. Tontaubenschießen.
Priem rief, der Unteroffizier klinkte die Feder aus,
und eine andere Scheibe sauste in den blauen Himmel. Die
doppelläufi ge Flinte hob sich, er zog ab. Sie sah, wie die
Scheibe zer sprang, und legte eine Hand schützend über
die Augen, um nicht von der grellen Sonne geblendet zu werden.
»Guten Morgen«, rief sie.
Er hielt beim Laden inne und blickte zu ihr hoch. »Habe ich Sie geweckt?«
»Das kann man wohl sagen.«
Er gab dem Unteroffizier die Flinte. »In zehn
Minuten gibt es Frühstück im Speisezimmer. Kommen Sie
herunter?«
»Nein, ich denke, ich werde heute auf dem Zimmer früh stücken.«
»Wie Sie meinen.« Er lächelte. Sie drehte sich tief einat mend um und ging wieder ins Zimmer.
Kurz nachdem sie fertig
gefrühstückt hatte, schickte Hor tense ihre Zofe, um sie
zu sich zu bestellen. Sie war im Bad, als Geneviève ihr Zimmer
betrat.
»Ich habe beschlossen, heute morgen zur Messe zu gehen. Du kannst mitkommen«, sagte ihre Tante.
»Aber ich habe schon gegessen.«
»Wie unüberlegt von dir. Du kommst trotzdem mit. Es ist notwendig.«
»Für die Erlösung meiner unsterblichen Seele?«
»Nein. Damit Maresa, dieses kleine Biest, eine
Möglichkeit hat, dein Zimmer zu durchsuchen. Chantal hat gestern
am spä ten Abend mitbekommen, wie Reichslinger ihr befahl, es
zu tun.«
Geneviève sagte: »Dann hat er mich in Verdacht?«
»Warum sollte er? Du hast ihn dir nur zum Feind
gemacht, das ist alles. Dies ist wahrscheinlich nur der Anfang einer
Kampagne, bei der er versuchen wird, sich irgendwie an dir zu
rächen. Für ihn würde ein Propagandaflugblatt der RAF
rei chen, um dich als Feindin des Reichs zu denunzieren. Wir
müssen sehen, ob wir es nicht schaffen, daß der
hinterhältige Kerl sich selbst ein Bein stellt.«
»Was soll ich tun?«
»Wenn du zurückkommst, wirst du die
unangenehme Ent deckung machen, daß deine Brillantohrringe
nicht mehr da sind, was der Fall sein wird, weil Chantal sie bis dahin
in ir gendein leicht zu findendes Versteck in Maresas Zimmer
ge bracht haben wird. Du wirst natürlich Himmel und
Hölle in Bewegung setzen. Geh bis zu Priem, er ist ja für die
Sicherheit verantwortlich.«
»Und was wird dann passieren?«
»Oh, er ist nicht dumm. Er wird die
Ohrringe sehr bald in Maresas Zimmer finden. Sie wird natürlich
ihre Unschuld be teuern, aber die Tatsachen werden für sich
sprechen. Und dann wird das dumme Ding anfangen zu weinen
…«
»Und sie wird gestehen, daß sie auf Reichslingers Befehl ge handelt hat?«
»Genau.«
»Du könntest beim Kartenspiel den Teufel selbst besiegen. Ich nehme an, das weißt du?«
»Selbstverständlich. «
»Ob Priem ihr aber glauben wird?« sagte Geneviève.
»Ich denke, wir können davon ausgehen. Er
wird sicher kei nerlei Aufsehen machen. Er wird Reichslinger unter
vier Au gen zurechtweisen oder Schlimmeres, aber er wird die Sache
nicht auf sich beruhen lassen. Ich glaube, dein Standartenführer
ist ein harter Vorgesetzter, wenn es sein muß.«
»Mein Standartenführer? Warum sagst du das?«
»Arme Genny.« Seit Jahren hatte sie
niemand mehr so ge nannt. »Ich habe dich lesen können
wie ein aufgeschlagenes Buch, seit du alt genug warst, um auf meinen
Schoß zu klet tern. In seiner Nähe ist dir unbehaglich,
habe ich nicht recht? Ihr wird vor Aufregung ganz mulmig, wenn er neben
dir steht.«
Geneviève holte tief Luft, um die Fassung zu behalten, und stand auf.
»Ich werde mein Bestes tun, um der Versuchung zu
wider stehen. Ich glaube, du kannst dich darauf verlassen,
daß ich es schaffe. Hast du es Chantal erzählt?«
»Ich habe ihr nur gesagt, daß Anne-Marie
lauter subversive Dinge treibt. Ich nehme an, du wirst feststellen,
daß sie von nun an etwas freundlicher zu dir sein wird.«
»Na gut«, sagte Geneviève. »Und nun brauchen wir einen Schlachtplan.«
»Ich hab’ mir alles zurechtgelegt.
Wir sprechen später dar über. Und
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